Bevölkerungsentwicklung

Das Wachstum der Weltbevölkerung soll noch in diesem Jahrhundert stagnieren. Für den Forscher Paul Morland ist Europa ein demografisches Katastrophengebiet. Er sagt, warum er es nicht für sinnvoll hält, für das Klima auf Kinder zu verzichten.
Ein Interview von Nicola Abé, São Paulo
17.07.2022

https://www.spiegel.de/ausland/bevoelkerungsentwicklung-welche-laender-wachsen-welche-schrumpfen-a-07dc10a4-46e3-4090-8e1d-b255499eb3c2?utm_source=pocket-newtab-global-de-DE

Kommentar Hartmut Krauss:

„(…) Im Näheren zeigt sich, dass die Bevölkerungsexplosion ein Phänomen ist, das diejenigen Weltregionen kennzeichnet, in denen vormodern-rückständig strukturierte, religiös-irrational normierte und repressiv-patriarchalisch geprägte Sozialordnungen vorherrschend sind, die eine starke Resistenz (Beharrungskraft) aufweisen.

Demgegenüber ist in den westlich-kapitalistischen Ländern, insbesondere in Europa und Japan, seit einiger Zeit ein Trend der Schrumpfvergreisung erkennbar, d.h. die Sterberate der einheimischen Bevölkerung liegt höher als die Geburtenrate, während gleichzeitig die durchschnittliche Lebenserwartung zunimmt. So wächst die Zahl der alten und sehr alten Menschen infolge der zunehmenden Lebenserwartung, während andererseits aufgrund eines längeren Trends relativ niedriger Geburtenraten die Zahl junger Menschen sinkt.

Wir können folglich einen gravierenden demographischen Grundwiderspruch in der Entwicklung der Weltbevölkerung feststellen: Eine Überproduktion von Nachkommen in den vormodern-nichtwestlichen Regionen vor allem in Afrika und Asien einerseits sowie eine Unterproduktion von Nachkommen in Europa und Japan andererseits.

Eine zentrale Ursache für die sinkende Geburtenrate in den westlich-kapitalistischen Ländern ist neben der Verlängerung von Ausbildungszeiten auch und gerade für Frauen in der neoliberalen Deregulierung und Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse sowie der wachsenden Konkurrenz um unbefristete Vollzeiterwerbsplätze zu sehen: Während Marx in seiner Theorie der Ware Arbeitskraft noch davon ausging, dass der individuelle Lohn des einzelnen (männlichen) Arbeiters ausreicht, um den Lebensunterhalt der gesamten Familie zu sichern, hat sich heute die Tendenz zu existenznotwendigen Doppelverdiener- oder Singlehaushalten ausgeweitet. Vor diesem Hintergrund wäre zu konstatieren, dass die absolute und relative Produktion des Mehrwerts im historischen Verlauf – trotz unmittelbar-oberflächlicher Anhebung des materiell-gegenständlichen Gebrauchsgüterniveaus (von IKEA-Möbeln über Mittelklassewagen bis Smartphones) – den individuellen Arbeitslohn vielfach unter die notwendigen Reproduktionskosten der Ware Arbeitskraft abgesenkt hat; woraus sich auch das zurückhaltende Reproduktionsverhalten der „postfordistischen“ Alterskohorten der Lohnabhängigen erklärt: Ein realistisches Gefühl sozialer Unsicherheit und damit verbundene soziale Zukunftssorgen unterdrücken bei vielen Werktätigen den Wunsch nach Kindern und bilden einen wesentlichen Faktor der demografischen Krise.

Aktuell zeigt sich folgendes Bild. Wie das Statistische Bundesamt mitteilte, wurden 2016 in Deutschland 792.000 Kinder lebend geboren. Das waren 55.000 Neugeborene oder 7,4% mehr als im Jahr 2015 (738.000).

„Im Jahr 2016 starben 911.000 Menschen, gegenüber dem Vorjahr ist die Zahl der Sterbefälle um 1,5% gesunken (2015: 925.000). Seit 1972 starben somit jährlich mehr Menschen, als Kinder geboren wurden. 2016 lag die Differenz bei 118.000, im Jahr 2015 hatte sie 188.000 betragen. (…) Den Bund der Ehe haben 410.000 Paare im Jahr 2016 geschlossen. Das ist eine Steigerung um 10.000 beziehungsweise 2,6% gegenüber dem Vorjahr (2015: 400.000).“1

Im Gegensatz hierzu ist die Bevölkerungsexplosion in den vormodern-traditionalistisch geprägten Ländern Afrikas und Asiens auf folgende patriarchalisch-modernisierungsresistente Konstellation zurückzuführen: Je stärker die beherrschte und abhängige Ungleichstellung der Frauen ausgeprägt ist, desto höher die durchschnittliche Kinderzahl und desto knapper sind die positionellen Güter wie Arbeitsplätze, Bildungs- und Karrieremöglichkeiten, Wohnungen etc. – kurzum: Lebenschancen – für die nachwachsenden Generationen. Daraus folgt: Je länger eine umfassende soziokulturelle Modernisierungsrevolution auf Kosten der zumeist orthodox-islamischen Normativität hinausgezögert und die „muslim youth bulge“ (der muslimische Jugendüberschuss) nicht nachhaltig reduziert wird, desto katastrophaler werden die gesamtgesellschaftlichen und globalen Folgen sein.

Generell gilt, nicht nur für islamische, sondern auch für andere religiös-vormodern normierte Gesellschaften, dass gegenwärtig mit 1,8 Milliarden mehr Menschen auf der Welt als je zuvor zwischen zehn und 24 Jahre alt sind. Davon leben 89 Prozent in Entwicklungsländern. In den am wenigsten entwickelten Ländern macht diese Altersgruppe 32 Prozent der Bevölkerung aus. „In Afghanistan, Ost-Timor und 15 Ländern in Afrika südlich der Sahara ist sogar die Hälfte der Bevölkerung jünger als 18 Jahre“ (Weltbevölkerungsbericht 2014, S. 2)2. Der hohe Anteil von Jugendlichen schlägt sich erwartungsgemäß in einer hohen Arbeitslosenrate nieder: „Im Jahr 2013 waren weltweit 73,4 Millionen Jugendliche zwischen 15 und 24 Jahren arbeitslos – etwa 36 Prozent der insgesamt 202 Millionen-Arbeitslosen“ (ebenda, S. 17).

Nur 22 Prozent der heranwachsenden Frauen nutzen Verhütungsmittel; zugleich werden täglich etwa 39.000 Mädchen unter 18 Jahren fremdbestimmt verheiratet. „Zwischen 2000 und 2011 waren schätzungsweise 34 Prozent der 20- bis 24-jährigen Frauen in Entwicklungsländern verheiratet oder in einer festen Partnerschaft, bevor sie 18 Jahre alt waren – schätzungsweise zwölf Prozent von ihnen sogar schon in einem Alter unter 15 Jahren“ (ebenda, S. 18). „Die Länder mit dem höchsten Anteil an Kinderbräuten sind auch jene, die weltweit die höchsten Geburtsraten haben: Frauen im Niger gebären der Weltbank zufolge im Schnitt 7,3 Kinder, im Tschad, in Somalia und in Mali sind es sechs.“3

„Nach Schätzungen der Vereinten Nationen werden 2015 rund 395 Millionen Menschen in den arabischen Ländern beheimatet sein (zum Vergleich: 2007 waren es rund 317 Millionen und 1980 150 Millionen).“4 Mit 60 Prozent der Bevölkerung, die 25 Jahre alt oder jünger sind, weisen die Länder Nordafrikas und des Nahen Ostens den weltweit höchsten Anteil junger Leute an der Gesamtbevölkerung auf.

Von 1950 bis 1995 wuchs die Bevölkerung in Afrika von 230 Millionen auf 717 Millionen; im Nahen Osten von 39 auf 151 Millionen. (Vgl. Klingholz/Sievert 2014, S. 7)

Dieses hohe Bevölkerungswachstum korreliert negativ mit einer gleichzeitig gegebenen wirtschaftlichen Stagnation bzw. zu niedrigen ökonomischen Wachstumsdynamik: „Nach 1980 gab es in der Region nahezu zweieinhalb Jahrzehnte lang fast kein Wirtschaftswachstum. Angaben der Weltbank zufolge stieg in den arabischen Ländern das reale BIP pro Kopf in den 24 Jahren zwischen 1980 und 2004 um insgesamt nur 6,4 Prozent (das heißt um weniger als 0,5 Prozent pro Jahr).“5

Die unmittelbare Folge dieses Gegensatzes zwischen Bevölkerungswachstum/Jugendüberschuss und wirtschaftlicher Stagnation sind eine hohe Arbeitslosigkeit sowie eine hohe Armutsrate. Dabei liegt die Jugendarbeitslosenquote in den arabischen Ländern doppelt so hoch wie der weltweite Durchschnittswert. Insgesamt wird davon ausgegangen, „dass die arabischen Länder bis 2020 etwa 51 Millionen neue Arbeitsplätze benötigen.“6 (Nach der internationalen Armutsschwelle von zwei Dollar pro Tag lebten 2005 20,3 Prozent der arabischen Bevölkerung in Armut. Legt man die höhere, nationale Armutsschwelle zu Grunde, dann liegt die Armutsquote bei 39,9 Prozent, was einer geschätzten Zahl von 65 Millionen Arabern entspricht.)

In Nigeria, dem Land mit der größten Volkswirtschaft in Afrika, zeigt sich zum einen exemplarisch das Dilemma der Bevölkerungsexplosion an sich und zum anderen nochmals die soziokulturell unterschiedlich verteilte Antriebsdynamik dieses Prozesses: „Nach Prognosen der Vereinten Nationen dürfte die Einwohnerzahl bis zum Jahr 2050 auf über 440 Millionen anwachsen. Dies entspricht in etwa der heutigen Einwohnerzahl Nordamerikas, allerdings auf einem Zehntel der Fläche.“7 Im überwiegend muslimischen Norden liegt die Geburtenrate pro Frau mit sechs Kindern deutlich über der Rate im überwiegend christlichen Süden mit vier Kindern pro Frau.

Das chronisch unterfinanzierte Bildungssystem ist nicht in der Lage, den rasant angewachsenen/anwachsenden Nachwuchs adäquat auszubilden. „Bei der letzten Erfassung im Jahr 2010 gingen gerade einmal 64 Prozent der nigerianischen Kinder im Grundschulalter zur Schule. Damit blieb 8,7 Millionen Kindern der Grundschulbesuch verwehrt. Zwar werden viele Kinder verspätet eingeschult und mit Grundkenntnissen in Lesen, Schreiben und Rechnen ausgestattet, doch bleiben sie im Allgemeinen weit hinter dem Notwendigen zurück.“8

„In Mali gehen 27 Prozent der Kinder im Grundschulalter überhaupt nicht in die Schule. Im Jemen sind es 13 Prozent9, in Ghana 18 und in Eritrea sogar 66 Prozent“ (Klingholz/Sievert 2014, S. 10).

Infolgedessen ist ein Großteil der Jugend weder für den lokalen noch für den globalen Arbeitsmarkt auch nur annähernd hinreichend qualifiziert, und so liegt die landesweite Rate der Jugendarbeitslosigkeit in Nigeria bei über 60 Prozent.

Die Wirkung des demographisch-sozialökonomischen Grundwiderspruchs wird zusätzlich verschärft durch die umfassende politische Repression, Korruption, Willkürherrschaft und Vetternherrschaft, wie sie in den entweder autokratisch regierten oder von militanter Anarchie und Staatszerfall gekennzeichneten Ländern vorherrscht. Auch hier verdeutlicht ein Blick auf Nigeria die verhängnisvollen Zusammenhänge. Obwohl das Land über große Erdöl- und Erdgasvorkommen verfügt, versickern die eingenommenen Petrodollars im korrupten Wirtschaftssystem. „Schätzungen zufolge wurden seit den 1970er Jahren durch die nigerianische Führungselite mehr als 400 Milliarden US-Dollar aus den Öleinnahmen veruntreut.“10 Gleichzeitig leben fast zwei Drittel aller Nigerianer nach Angaben der Weltbank unterhalb der Armutsgrenze von 1,25 US-Dollar am Tag. Hinzu kommt, „dass die Rohstoffe das Land gänzlich unverarbeitet verlassen und deshalb kaum Jobs schaffen. So muss Nigeria teuer Benzin aus dem Ausland importieren, um den Eigenbedarf zu decken.“11

Inhaltsabstrakte „Bestandserhaltungsmigration“ als Konzept der sozioökonomischen und soziokulturellen Verwüstung Europas

Angesichts des demografischen Widerspruchs zwischen westlich-spätmodernen und nichtwestlich-vormodernen Gesellschaften in Afrika, Nahost und Asien hat nun die Abteilung Bevölkerungsfragen der Vereinten Nationen unter dem Leitwort „Bestandserhaltungsmigration“ eine Auslagerung der Überbevölkerung von den vormodern-rückständigen Ländern Asiens und Afrikas in das schrumpfvergreisende Europa als zentrale Strategie empfohlen. Dabei bezieht sich der Begriff „Bestandserhaltungsmigration“ „auf die Zuwanderung aus dem Ausland, die benötigt wird, um den Bevölkerungsrückgang, das Schrumpfen der Erwerbsbevölkerung sowie die allgemeine Überalterung der Bevölkerung auszugleichen.“12 In diesem Kontext wurden für eine Reihe von Ländern, deren Fruchtbarkeitsziffern allesamt unter dem Bestandserhaltungsniveau liegen, die Höhe der zur Bestandserhaltung erforderlichen Zuwanderung errechnet und die möglichen Auswirkungen dieser Zuwanderung auf den Umfang und die Altersstruktur der Bevölkerung untersucht.“13 Im Szenario IV, das darauf abzielt, die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (15 bis 64 Jahre) konstant zu halten, läge demnach in der Perspektive 2000-2050 die Gesamtzahl der Einwanderer nach Deutschland bei 24 Millionen (bzw. 487.00 pro Jahr).

Bereits an dieser Stelle ist hervorzuheben, worauf diese „Empfehlung“ nicht abzielt und was als strategische Alternative von vornherein vollständig ausgeschlossen wird, nämlich eine Doppelorientierung auf A. eine umfassende Modernisierungs-, Säkularisierungs- und Demokratisierungsrevolution für die vormodern-bevölkerungsexplosiven Länder (Überwindung der dortigen religiös-ideologisch legitimierten Diktaturen und Autokratien) und B. eine Überwindung der neoliberalen, die Arbeitsverhältnisse deregulierenden und somit prekarisierenden Kapitaldominanz in den westlich-spätmodernen Gesellschaften. Genau gegen diese Doppelorientierung (gegen „McWorld“ und „Dschihad“14 bzw. gegen den Kapital- und Religionsfetisch) richtet sich aus naheliegenden Gründen der herrschaftsideologische „Modernisierungsskeptizismus“ der globalkapitalistischen Institutionen als Instanzen, die immer auch der Verflechtung von westlichen und nichtwestlichen (islamischen) Herrschaftssicherungs- und Profitinteressen dienen und diese widerspiegeln. (…)“

http://www.gam-online.de/text-globkap.html

 

 

 

 

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