„Der russisch-jüdische
Historiker Alexander Nekrich war ein mutiger Mann. 1965 veröffentlichte er in Moskau
das Buch 22. Juni 1941, in dem er Stalin für die katastrophalen Niederlagen der sowjetischen Armee zu Kriegsbeginn verantwortlich machte. Die Veröffentlichung markierte Höhepunkt und Ende der sogenannten „Tauwetter-Periode“, einer versuchsweisen Aufarbeitung der Verbrechen und Massenmorde der Stalinzeit. Die Öffnung wurde schnell zurückgenommen, schon 1966 musste sich Nekrich in einem Tribunal im Moskauer Institut für Marxismus-Leninismus für die Thesen seines Buches verantworten, 1967 wurde er aus der Partei ausgeschlossen und gesellschaftlich demontiert. Wenige Jahre später konnte er in die Vereinigten Staaten emigrieren, wo er bis zu seinem Tod in Harvard forschte und lehrte.
Dort veröffentlichte er neben anderen Büchern seine Autobiographie unter dem Titel
Entsage der Angst (Forsake Fear). Der Titel summiert Nekrichs Lebenserfahrung, dass ein freies, kreatives Leben erst möglich ist, wenn wir uns aus der Umklammerung unserer Ängste befreien. Seine These war, dass eine totalitäre Herrschaft so lange funktioniert, wie die unter ihr Lebenden aus Angst mit sich machen lassen, was die Machthaber wollen. Furcht ist das Fundament jeder Diktatur. Es war seine Essenz der am eigenen Leib erfahrenen Gewaltherrschaft des Stalinismus. Aus Angst ließen sich die Menschen ihre Rechte und Freiheiten nehmen, aus Angst schwiegen sie, statt ihre Meinung zu sagen, aus Angst akzeptierten sie noch die absurdeste Willkür eines ihr Leben regulierenden, gewalttätigen Apparats.“ (…)