Glanz statt Hetze

Veröffentlicht am August 6, 2020 von tapferimnirgendwo
Die Kölner Oberbürgermeisterin, Henriette Reker, ruft die Kölner Bevölkerung auf, bei der Aktion „Glanz statt Hetze“ teilzunehmen.
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Vom 11. bis zum 17. August 2020 sollen Kölner Bürgerinnen und Bürger die sogenannten Stolpersteine putzen. Die „Stolpersteine“ sind ein Projekt des Künstlers Gunter Demnig, das im Jahr 1992 begann. Mit im Boden verlegten kleinen Gedenktafeln soll an das Schicksal der Menschen erinnert werden, die in der Zeit des Nationalsozialismus verfolgt, ermordet, deportiert, vertrieben oder in den Suizid getrieben wurden.
Für die Organisatoren der Aktion „Glanz gegen Hetze“ ist das Putzen der Stolpersteine, „nicht nur ein Akt des Gedenkens, sondern eine Aktion, die politisch ausgerichtet ist. Es ist ein Zeichen gegen die sich verstärkenden rechten Tendenzen in unserer Gesellschaft. Gerade nach Halle und Hanau ist es wichtig, dass wir alle aktiv werden. Immer glänzende Stolpersteine sollen ein deutlich sichtbares Zeichen gegen Hetze, Hass, Rassismus, Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus sein und durch ihren Glanz allen zeigen, dass braunes Gedankengut in unserer Nachbarschaft, in Köln und anderswo keinen Platz hat.“
So sehr ich die Intention dieser Sätze verstehe, so unwohl wird mir, wenn ich den Wortlaut höre.
Es gibt keinen Glanz im Holocaust!
Es ist wichtig, gegen Hetze, Hass, Rassismus, Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus zu streiten. Dafür braucht es aber keine glänzende Erinnerung an den Holocaust.
Wenn ich das Wort „Glanz“ höre, denke ich sofort an die deutsche Nationalhymne: „Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland! Danach lasst uns alle streben, brüderlich mit Herz und Hand! Einigkeit und Recht und Freiheit sind des Glückes Unterpfand: Blüh im Glanze“ der toten Juden.
Nein! Tote Juden glänzen nicht. Nein! Deutschland ist nicht besser geworden durch die Vergangenheit und auch nicht durch die deutsche Art der Bewältigung dieser Vergangenheit. Nein! Deutschland hat nichts aus der Vergangenheit gelernt. Deutschland darf nämlich nichts aus dem Massenmord lernen, weil es nichts gutes aus dem Holocaust gibt.
Es gibt keine gute Erinnerung an das Böse.
Es gibt nichts aus dem Holocaust zu lernen. Was soll es denn auch aus dem Holocaust zu lernen geben? Dass Menschen zu grausamen Ungeheuerlichkeiten in der Lage sind? Dass man Menschen nicht millionenfach vergast? Dass Juden auch Menschen sind? Dass man lieb zueinander sein sollte, egal wie man aussieht? Dass man sich wehren darf, wenn man verfolgt wird? Dass man Menschen, die andere Menschen vergasen, den Krieg erklärt? Dass man wahnsinnige Menschen mit allen Mitteln entwaffnet? All das kann man auch ohne Holocaust wissen! Der Holocaust ist keine Nachhilfe für moralisch Sitzengebliebene, sondern schlicht ein unvergessbares und unverzeihliches Verbrechen, aus dem es nichts zu lernen gibt. Unter keinen Umständen versprüht die Erinnerung an den Horror irgendeinen „Glanz“.
Das jüdische Leben kann glänzen, nicht das jüdische Leid.
In Deutschland findet Judentum fast nur noch in Gedenkstunden statt. In Schulen taucht das Judentum deutlich öfter im Geschichtsunterricht auf, als im Philosophie-, Ethik-, Religions- oder Gesellschaftskundeunterricht. Juden sind Gespenster von damals. Sie werden als Opfer der Vergangenen bewältigt und immer dann aus der Schublade geholt, wenn sie benötigt werden.
Jüdische Gemeinden werden oft und gerne kontaktiert, wenn ein Zeichen gegen Hass, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit gesetzt werden soll, aber erstaunlich selten, um einfach nur zu feiern oder grundlos glücklich zu sein. Die toten Juden werden poliert und auf Hochglanz gebracht. Für die lebendigen Juden bleibt da kaum noch Zeit.
In vielen deutschen Städten gibt es mittlerweile mehr Stolpersteine als lebendige Juden. Eine deutliche Mehrheit aller Deutschen trifft im Alltag öfter auf tote Juden als auf lebendige. Die Mehrheit der deutschen Schüler war in KZ-Gedenkstätten und weiß, wo in ihrer Nachbarschaft Stolpersteine liegen, aber sie haben keine jüdischen Freunde.
Was würden Sie über Ihre Nachbarn denken, wenn sie immer wieder zu Beerdigungen und Trauerfeiern kommen, aber nie zu Geburtstagen und Feiertagen?
Im August 2020 sollen die Stolpersteine auf Hochglanz poliert werden. Dabei erfahren wir auf diesen Steinen nicht, was diese Juden erreicht haben oder wen sie geliebt und worüber sie sich gefreut haben. Wir erfahren lediglich, wann, wo und wie sie ermordet wurden. Wer Menschen auf ihren Status als Opfer reduziert, erwartet irgendwann auch von ihnen, Opfer zu sein. Der Schritt, sie zu Opfern zu machen, ist dann nicht mehr weit.
Solange in Deutschland die toten Juden mehr glänzen als die lebendigen, werden es Juden in diesem Land schwer haben.
Die Toten, denen wir gedenken, sind nicht mehr unter uns, um uns zu sagen, ob ihnen die Form des Gedenkens gefällt oder ob sie es gar als unwürdig erachten. Eine Instrumentalisierung der Toten für eigene Interessen und Gefühligkeiten ist unmoralisch.
Wenn wir sagen, wir dürfen nicht vergessen, müssen wir an die Nachfahren und Verwandten der Opfer denken, also an jene, die nicht vergessen können, weil das Unvergessliche und Unverzeihliche Teil ihres Lebens ist. Sobald wir gedenken, weil wir gedenken wollen und nicht, weil wir nicht vergessen können, ist es unsere Pflicht, aufgrund des puren Vorhandenseins unseres Interesses, gedenken zu wollen, Bescheidenheit zu üben gegenüber jenen, die nicht vergessen können. Ein Begriff wie „Glanz“ ist daher in diesem Zusammenhang vollkommen unangemessen.
Juden können den Holocaust nicht vergessen. Er ist brutaler Teil der eigenen Familiengeschichte. Damit umzugehen, ist schon schwer genug. Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sind unerträglich. Warum aber muss dafür immer wieder zwanghaft die Erinnerung an den Holocaust aufpoliert werden?
Statt jüdische Organisationen nur zu kontaktieren, um gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit ein Zeichen zu setzen, wie wäre es damit, jüdische Organisationen die kommenden Jahre vermehrt zu kontaktieren, um das lebendige Judentum zu feiern und zum Glänzen zu bringen? Jüdischen Organisationen brauchen keine Dramaturgen aus der Politik, die erklären, wie Nächstenliebe funktioniert. Juden brauchen mehr Nachbarn, die das Leben feiern und helfen, dass das jüdische Leben glänzen und sicher gedeihen kann.
Wie wäre es daher damit, vom 11. bis zum 17. August 2020 nicht nur tote Juden zu polieren, sondern lebendigen Juden etwas zu schenken?
Gehen Sie auf die Homepage einer jüdischen Gemeinde oder einer jüdischen Organisation, suchen Sie nach einem Spendenkonto und überweisen Sie einen Betrag Ihrer Wahl, am besten mit dem Verwendungszweck: „Das jüdische Volk lebt!“
Das ist wahrer Glanz statt Hetze.
Glanz statt Hetze

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