Exzellente Entqualifizierung: Das neue akademische Prekariat

von Britta Ohm

„Der Herr im Jobcenter – mein „Arbeitsvermittler“ – schüttelt mir freundlich-abwartend die Hand. Möglicherweise ist er etwas nervös angesichts meines Doktortitels, den er auch sofort pflichtschuldig ausspricht (woran mir überhaupt nichts liegt). Er weiß, dass er mir außer Zwangsmaßnahmen, Callcenter und Saisonarbeit (Erdbeeren pflücken) nichts zu bieten hat. Wir beide wissen – und wissen, dass der andere es weiß –, dass er von seinen Vorgesetzten darauf angesetzt wurde, die in der „Tagesschau“ verkündete Arbeitsmarktstatistik zu exekutieren, die sich selbst und der Welt vorgaukelt, dass Deutschland Vorreiter in der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit sei. Deutschland Superland, Land der Ideen und der Forschung, engagiert im „Wettbewerb um die besten Köpfe“, Bildungsrepublik, Wirtschaftsmacht, Exportweltmeister, historisch niedrige Arbeitslosenquote (und Fußball-Macht natürlich auch noch). In der medial geprägten Buzzword-Rhetorik von „Brand Germany“ spiegelt sich die neoliberale Exzellenz-Logik, die alle Relationen aus dem Blick verloren hat, unter anderem die, dass man sich in einer stark gebeutelten europäischen und globalen Umgebung trefflich als Hoffnungs-Leitwolf inszenieren kann, nicht nur in dem, was beharrlich „Flüchtlingskrise“ genannt wird (als wären die Flüchtlinge daran schuld).

Wenn sich aber der (scheinbar nur) Einäugige von den Blinden zum König machen lässt, zeigt sich darin eher ein allgemeiner Realitätsverlust denn eine Erfolgsgeschichte. Doch auch Akademikerinnen wachen erst auf, wenn sie an die Decke stoßen, und selbst die vermögen gerade sie, herangezogen in der unhinterfragten Selbstverständlichkeit ihres Privilegs zu lernen und zu lehren, oft noch lange ungläubig zu ignorieren.

Tatsächlich hat sich die Decke aber längst immer weiter gesenkt, und sie bietet immer weniger Luftlöcher. Mein Arbeitsvermittler, so zeigt sich schnell, kann und soll nicht wirklich mehr etwas für mich tun. Es geht nicht mehr um Fördern, sondern nur noch um Fordern – und also um die Verletzung schon des ersten Kapitels des SGB II (Grundsatz Fördern und Fordern).

Gleichzeitig zeigt sich das unmittelbar anhängende Problem eines nicht vorhandenen akademischen und eingebrochenen alternativen Arbeitsmarktes für Geistes- und Sozialwissenschaftlerinnen.

Es offenbart sich der eigentliche Druck, unter dem der neoliberalisierte Staat operiert. Das Ziel ist die Erfüllung einer imaginären Arbeitslosenstatistik ohne entsprechende Grundlage. Das aber funktioniert im Fall von Akademikerinnen nur noch, indem sich die Arbeitsvermittlerinnen als berufsmäßige Entqualifizierer betätigen. Damit wird es zunehmend kafkaesk.“ (…)  –  (Hervorhebung GB)

„Wenn es ihnen jemand öffentlich sagt, wie mein ehemaliger Professor am Institut für Politikwissenschaft der FU Berlin, Peter Grottian, der vor zwei Jahren erstmals deutlich auf die massenhaft unbezahlte Lehre hinwies und es auf den Punkt brachte, dass Nachwuchswissenschaftlerinnen in Deutschland behandelt werden „wie der letzte Dreck“,[1] dann hat das allerdings kaum einen Effekt, auch unter den betroffenen „Nachwuchswissenschaftlerinnen“ nicht. Man duckt sich lieber weg. Vielleicht komm ich ja doch noch irgendwie durch. Wenn einer es nicht mehr aushält, dann veröffentlicht er seine eigene Leidensgeschichte lieber anonym, sagt aber ganz offen, dass er das tut, weil er um seine letzten Chancen im System fürchtet.[2] So funktioniert Entsolidarisierung.

Demonstrieren und streiken, wie kürzlich die Lecturers in England, die trotz Festanstellung und monatlichen Gehalts ihr Leben aufgrund rabiater Kürzungspolitik an den Universitäten nicht mehr finanzieren können: in Deutschland bislang undenkbar. Das liegt unter anderem daran, dass gewerkschaftliches, solidarisches Denken im Bildungssektor auch während der weitreichenden Verbeamtung im Nachkriegs-Wohlstands-Deutschland systematisch, und tatsächlich in Verletzung demokratischer Grundrechte, unterbunden wurde. Beamte durften, und dürfen, nicht streiken. Staatsdiener haben dem Staat (demselben, der nun seinen Bildungsauftrag verweigert) zu dienen und ihn nicht zu kritisieren. Folglich gibt es, über eine weitgehend folgenlose GEW (Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft) hinaus, keinerlei Tradition von Studierenden- und Universitäts-Gewerkschaften, im Gegensatz zu allen anderen Ländern, an denen die Bundesregierung ihre pompöse Werbekampagne für das Bildungssystem ausrichtet, allen voran den USA selbst. Trotzdem hat es zu brodeln begonnen im zunehmend luftleeren Raum unbezahlter Lehre, unsicherer Drittmittel und, abgesehen von der Professur, ausschließlich befristeter, und immer kürzer laufender Projekt- und Mitarbeiterinnenstellen. Allerdings brodelt es bislang hauptsächlich hinter den schicken Kulissen, in einer Privatisierung des Leids, am Rande von Konferenzen und Tagungen, in persönlichen Gesprächen. Die drehen sich schon lange nicht mehr um den informellen fachlichen Ideenaustausch, sondern fast ausschließlich um die Bedrohung der akademischen Existenz: Wie lange läuft Deine Stelle/Dein Projekt noch?, Was machst Du dann?, Wie willst Du das schaffen?, Was für eine Scheiße alles. – So funktioniert wissenschaftliche Entleerung.“ (…)

https://www.blaetter.de/archiv/jahrgaenge/2016/august/exzellente-entqualifizierung-das-neue-akademische-prekariat

http://www.anthro.unibe.ch/ueber_uns/personen/dr_phil_britta_ohm/index_ger.html

Kommentar GB:

Die Mittelbausituation war immer mehr oder minder prekär und entsprechend ungemütlich. Ich habe das selbst erlebt, aber das heißt nicht, daß eine Kritik hieran nicht angebracht wäre. Eine Wissenschaftskarriere ist jedoch gleichermaßen keine Beamten- oder Genderlaufbahn, sondern sie ist, welch häßliches Wort, leistungsorientiert  und, ja, auch das, wettbewerbsorientiert (siehe Art. 33 GG). Und dabei kann es nicht nur Gewinner geben. Nicht nur auf der Olympiade sind die vierten Plätze besonders undankbare Plätze. Das ist so. Man geht daher ein Risiko ein, wenn man sich auf diesen Weg begibt, und man ist gut beraten, wenn man dabei den Arbeitsmarkt nicht völlig aus dem Blick verliert.

Wenn man obige Vita und Publikationsliste liest, dann könnte, einmal abgesehen vom Hochschulbereich, eine analytische und beratende Tätigkeit in Stiftungen infrage kommen, weil tiefe Spezialkenntnisse dort benötigt werden, oder auch im Bereich der privaten oder öffentlichen Medien, weil es diesen nicht schadet, am Manko ihrer weit verbreiteten Oberflächlichkeit zu arbeiten. Vielleicht  wäre in diesem Fall auch das Auswärtige Amt interessiert. Zusätzlich sollten ausländische Arbeitsmärkte berücksichtigt werden; die Voraussetzungen dafür scheinen hier gegeben zu sein.

Etwas jammerig auf eine überforderte Arbeitsmarktbehörde zu hoffen, die sich stets bemüht, die aber nicht zaubern kann, und der man deswegen meint, etwas vorwerfen zu können, das dürfte dabei allerdings wenig hilfreich sein, denn das nützt gar nichts, und es ändert auch nichts.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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