Asylverfahren: Bundesverfassungsgericht hält Richter wegen Migrationskritik für befangen

09. Juli 2021

„KARLSRUHE. Das Bundesverfassungsgericht hat einen Richter für ein Asylverfahren wegen möglicher Befangenheit abgelehnt, der die Aussage „Migration tötet“ als „beweisbare Tatsache“ bezeichnet hatte. Damit kam das Gericht der Beschwerde eines Afghanen nach, über dessen Klage wegen seines abgelehnten Asylantrags ursprünglich der betroffene Richter entscheiden sollte, teilte das Bundesverfassungsgericht am Freitag mit.“ (…)

https://jungefreiheit.de/politik/deutschland/2021/bundesverfassungsgericht-haelt-richter-wegen-aussagen-ungeeignet-fuer-asylverfahren/

Kommentar Reinhard Hascha:

Asylrichter befangen – wegen Thesen zur Migration

Zweifel an der Unvoreingenommenheit des abgelehnten Richters ergäben sich schon aus der ausufernden historischen Begründung für die Behauptung, Einwanderung stelle „naturgemäß eine Gefahr für kulturelle Werte dar“, und aus dem Verweis darauf, dass die bestehende „Gefahr für die deutsche Kultur und Rechtsordnung sowie menschliches Leben“ „nicht von der Hand zu weisen“ sei.

Dem Urteil sei gleichsam auf die Stirn geschrieben, dass der Richter, der es abgefasst hat, Migration für ein grundlegendes, die Zukunft unseres Gemeinwesens bedrohendes Übel hält. Deswegen durfte der Afghane Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des abgelehnten Richters hegen und sehr wohl Zweifel an der Unvoreingenommenheit des abgelehnten Richters haben. Daran ändere nichts, dass der Richter den Flüchtling vorläufig einen Schutzstatus zuerkannte.

https://www.tagesschau.de/inland/bundesverfassungsgericht-klage-befangenheit-asylrichter-101.html

und

Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde zur Besorgnis der Befangenheit in einem Asylverfahren
Pressemitteilung Nr. 58/2021 vom 9. Juli 2021

Beschluss vom 01. Juli 2021
2 BvR 890/20

https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2021/bvg21-058.html;jsessionid=F356100D1D139B76FB42119B8873A2AE.1_cid377  

Befangenheit von Richtern in der Verwaltungs- und der Verfassungsgerichtsbarkeit

https://www.bundestag.de/resource/blob/796104/3f76a2f8a84ce5880a637624730b9aff/WD-3-182-20-pdf-data.pdf

Ende 2017 hat das Bundesverfassungsgericht sich eigene Verhaltensleitlinien gegeben. Diese sehen unter anderem die folgenden Grundsätze, die die Unabhängigkeit der Richter betreffen, vor:

„3. Die Mitglieder des Gerichts üben ihr Amt in Unabhängigkeit und Unparteilichkeit aus, ohne Voreingenommenheit im Hinblick auf persönliche, gesellschaftliche oder politische Interessen oder Beziehungen. Sie achten in ihrem gesamten Verhalten darauf, dass kein Zweifel an der Neutralität ihrer Amtsführung gegenüber gesellschaftlichen, politischen, religiösen oder weltanschaulichen Gruppierungen entsteht. Dies schließt die Zugehörigkeit zu solchen Gruppierungen und bei angemessener Zurückhaltung ein Engagement in ihnen sowie die sonstige Mitwirkung am gesamtgesellschaftlichen Diskurs nicht aus.“

Die Leitlinien sind allerdings reine Selbstverpflichtungen und haben keine rechtliche Bindungswirkung.

Zitat aus Katz/Sander; s.u.:

„Zunächst wäre verallgemeinernd davon auszugehen, dass das Recht der gesetzlich fixierte Ausdruck politischer Handlungs- und Gestaltungsmacht ist, womit zum Ausdruck gebracht, dass das Recht eine systemfunktionale, herrschaftslegitimierende und -stabilisierende Funktion besitzt.

In Konkretisierung dessen sind die Exekutive zur Rechtsdurchführung und die Judikative zur Rechtsanwendung/-kontrolle verpflichtet. Ich sehe hier zwei Seiten des Problems: Einerseits ist der Richter an die Beweisführung im Prozess bei möglichst umfassender Ausschöpfung des Rechtsrahmens gebunden (Determiniertheit der Rolle). Deshalb ist im Sinne des dogmatischen Rechtsverständnisses die Kritik des Richters zur Migration in dieser pauschalen Form nicht nur undurchdacht, sondern auch urteilsirrelevant. Andererseits wäre zu betonen, dass gerade der Richter infolge seiner juristischen Praxis sowie der damit verbundenen Kenntnisse demokratieerodierender Entwicklung berufen wäre, außerhalb seiner beruflichen Tätigkeit in öffentlichen Diskursen (Podium/Forum) kritisch Probleme der Migration, Zuwanderung etc. anzusprechen. Art. 20 (4) GG rückt in greifbare Nähe. Versagt haben in dieser Hinsicht nicht einzelne Juristen, sondern die juristische Klasse insgesamt, also inner- und außerhalb der Judikative.

Hervorzuheben sei hier nochmal abschließend die Stellung der Judikative: Sie „ … wirkt als streitentscheidende, vor allem aber auch rechtswahrende und rechtskontrollierende Gewalt an den Reibungs- und Konfliktpunkten zwischen Norm und Lebenssachverhalt. Sie hat den verfassungsverbindlichen Auftrag, in Anwendung der anerkannten juristischen Auslegungsregeln und in der Pflicht zu rational nachvollziehbarer Begründung ihrer Entscheidung, diese Reibungspunkte i.S. des demokratischen Gesetzgebers aufzulösen und den Rechtsfrieden zwischen den Beteiligten herzustellen.“

Die Richter besitzen die Aufgabe von Gesetzeswahrern und nur sehr begrenzt und subsidiär von Rechtsgestaltern.

(Katz/Sander: Staatsrecht Grundlagen, Staatsorganisation, Grundrechte, Heidelberg 2019, S. 286, Rd.-Nr.: 549)

Im Folgenden (hier: s. o.) das Urteil des BVerfG, welches im Link nicht einsehbar ist. Die Verhaltensleitlinien sollen nochmals die Problematik der Befangenheit vertiefen.

Kommentar Hartmut Kraus:

Besten Dank für die Ausführungen.

Anmerkung von mir:

„Dem Urteil sei gleichsam auf die Stirn geschrieben, dass der Richter, der es abgefasst hat, Migration für ein grundlegendes, die Zukunft unseres Gemeinwesens bedrohendes Übel hält.“

Andersherum betrachtet könnte/müsste/sollte  jede richterliche Entscheidung in einem Asylverfahren, bei der die gesamtgesellschaftlichen Folgeprobleme der ungesteuerten Massenimmigration ausgeblendet und folglich nicht abgewogen werden, gleichermaßen als „befangen“ im Sinne der unkritischen Akzeptanz bzw. parteilichen Befürwortung der regierungsamtlich aufgenötigten Migrationspolitik (“Wir-schaffen-das“) bewertet und entsprechend aufgehoben werden. Denn ihr steht spiegelverkehrt auf der Stirn geschrieben, dass der jeweils so urteilende Richter  dem von der politischen Klasse vorgegebenen Standpunkt folgt, dass ungesteuerte Massenimmigration letztlich kein schwerwiegendes Problem für das Gemeinwesen darstellt.

Man sieht hier nur einmal mehr: Es gibt keine freischwebende, unabhängig-neutral urteilende Rechtsprechung. Diese ist letztlich immer der aktuellen Herrschaftskonstellation unterworfen; wobei – wie bereits zutreffend dargelegt –  das Recht der gesetzlich fixierte Ausdruck politischer Handlungs- und Gestaltungsmacht im reproduktiven Interesse der bestehenden Herrschaftsordnung ist.

Die gesamten juristischen Diskurse außerhalb systemirrelevanter zivilrechtlicher Zwistigkeiten sind letztlich nach meiner Auffassung insofern immer „ ideologisch“ verkehrt (im Marxschen Sinne falschen Bewusstseins), weil sie  die Dialektik antagonistischer (unversöhnlicher) Interessengegensätze mittels formaljuristischer „Sprachspiele“ (Rabulistk) ausblenden/missachten/verzerren müssen. –

 

 

 

 

 

 

 

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