Bedrohte Minderheiten im Nahen Osten: Das Ende der Toleranz

Kommentar von Daniel Steinvorth 22.10.2016

„Die religiöse Vielfalt im Nahen Osten war nie selbstverständlich, aber selten so bedroht wie heute. Damit Minderheiten nicht von der Landkarte verschwinden, brauchen sie Schutzzonen.“

„Es war nie leicht für die Jesiden. Auch nicht in den Tagen des Osmanischen Reiches, das immer wieder gerne als Musterepoche für religiöse Toleranz verklärt wird. Während Christen und Juden damals Schutzbefohlene waren, eine Sondersteuer zahlten und dafür weitgehend unbehelligt blieben, galten die Jesiden als «gottlos». Weil die Türken «von ihnen annehmen, dass sie den Teufel anbeten», wie der preussische Militärberater des Sultans, Helmuth von Moltke, im Jahre 1840 notierte, durften sie auch «in Sklaverei verkauft werden». Zwei Jahrhunderte später berufen sich die Terroristen des Islamischen Staats (IS) auf dieselbe Argumentation. Der Glaube der Jesiden sei eine «heidnische Religion aus vorislamischer Zeit», man dürfe seine Anhänger demnach als vogelfrei betrachten. Am 3. August 2014 überfielen Kämpfer des IS die Dörfer der Sinjar-Ebene im Nordirak, das Hauptsiedlungsgebiet der Jesiden. Über 3000 Männer wurden ermordet, über 5000 Frauen und Kinder entführt und versklavt. Die Verbrechen an den Jesiden stuften die Vereinten Nationen später als Genozid ein. Reale Konsequenzen hat dies bis heute keine.

Es war auch für die Mandäer im Süden des Iraks nie leicht. Ausgerechnet der Despot Saddam Hussein gewährte den Angehörigen der geheimnisumwobenen Täuferbewegung eine Art prekären Schutz, weil er in ihnen ein Bindeglied zum untergegangenen babylonischen Reich sah, das in der Ideologie der Baath-Partei eine Rolle spielte. Nach der Irak-Invasion von 2003 und dem anschliessenden Bürgerkrieg machten Extremisten und Kriminelle den Mandäern das Leben zur Hölle. Zwangskonversionen und Morde veranlassten den grössten Teil der Minderheit zur Flucht. Nur noch rund 5000 Mandäer sollen heute im Zweistromland leben. Vor 2003 waren es mehr als zehnmal so viele.“ (…)

http://www.nzz.ch/meinung/bedrohte-minderheiten-im-nahen-osten-das-ende-der-toleranz-ld.123478

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