Gewalt gegen Andersgläubige

Über die Dynamik des Radikalismus im Islam  –  Neue Züricher Zeitung 17.3.05

Von Tilman Nagel

„Phasen einer mit religiösen Argumenten gerechtfertigten Anwendung von Gewalt gegen Andersgläubige oder Heterodoxe finden sich in der Geschichte aller Universalreligionen. Wegen der sich in den letzten Jahren häufenden muslimischen Terroranschläge ist das Thema «Gewalt und Religion» zu einem Gegenstand heftiger Polemik zwischen den Muslimen einerseits und den Verteidigern eines pluralistischen Gesellschaftsverständnisses andererseits geworden. Letztere werden von den Muslimen meist pauschal als Christen ins Visier genommen, was unangemessen ist und eine Unkenntnis der Säkularisierung und ihrer Folgen verrät.

Lassen wir uns dennoch kurz auf diese Polemik ein! An vielen Stellen im Koran rechtfertigt Mohammed – bzw. nach muslimischer Vorstellung Allah – die Gewalt gegen Andersgläubige; sie sind des Todes (z. B. Sure 47, 4; 2, 191; 4, 89), oder sie sollen unterworfen (Sure 9, 29) und dürfen vertrieben und enteignet werden (Sure 59). Umfangreiche Kapitel der Werke, die die Sunna, das normsetzende Handeln Mohammeds, enthalten, sind dem Jihad gegen die Andersgläubigen gewidmet. Mit diesen Tatsachen konfrontiert, weisen Muslime meist auf Stellen im Alten Testament hin, an denen ebenfalls von Gewalt gegen Andersgläubige die Rede ist (z. B. 2. Mose 22, 17; 3. Mose 20). Dass es dort auch andere Aussagen gibt (z. B. 3. Mose 19, 17 f.), aus denen Jesus im Neuen Testament das Ideal der Feindesliebe entwickelt (Lukas 6, 27), wird oft übersehen. […]

Jenseits jeglicher Polemik ist festzustellen, dass Koran und Sunna die Anwendung von Gewalt gegen Andersgläubige ausdrücklich befürworten, vor allem wenn sie den Interessen der «besten je für die Menschen gestifteten Gemeinschaft» (Sure 3, 110) dienlich ist. Die muslimische Gesetzesgelehrsamkeit hält an diesem Grundsatz unbeirrbar fest und billigt, um ein Beispiel zu nennen, nach wie vor die Tötung desjenigen, der vom Islam zu einer anderen Religion übergetreten ist. Im Neuen Testament dagegen wird die Gewalt gebrandmarkt, und zwar gerade auch dann, wenn sie von der eigenen Seite ausgeht. Die Gewaltlosigkeit nimmt in der Verkündigung Jesu einen breiten Raum ein; es genüge hier der Hinweis auf die Bergpredigt. Normative Texte vergleichbaren Inhalts fehlen im Koran. Das häufig angeführte Tötungsverbot in Sure 5, Vers 32 meint nur die Angehörigen der eigenen – muslimischen – Solidargemeinschaft; ihnen darf allein im Rahmen eines Blutracheverfahrens das Leben genommen werden (vgl. Sure 2, 178 f.; 5, 45; 25, 68).

Der Kern des Problems ist allerdings mit dem Zitieren autoritativer Worte noch nicht freigelegt. Auf ihn stösst man erst, wenn man das jeweilige Verhältnis zwischen dem heiligen Wort und der realen Welt ergründet. In einer 1983 vom Islamischen Zentrum in München herausgegebenen Anleitung zur Verbreitung des Islams unter Nichtmuslimen hebt der Verfasser hervor, aus dem Bekenntnis zum Christentum folge allenfalls die Verpflichtung, alle Handlungen an einer bestimmten Ethik auszurichten; was das bedeute, müsse im Einzelfall durch den Handelnden selber entschieden werden. Der Islam dagegen gebe seinen Anhängern zahlreiche ganz konkrete Anweisungen an die Hand. Diese schreiben vor, wie man die Riten auszuüben und wie man sich in Alltagssituationen zu verhalten hat. Vereinfachend gesprochen, meint Islam demnach die Übernahme vorgefertigter, auf Allah oder Mohammed zurückgeführter Muster des Daseinsvollzugs – von Mustern überdies, die unabhängig von jeglicher Geschichte über alle Zeiten hinweg gültig sein sollen.

Während dem Christen die Prüfung der jeweiligen Voraussetzungen seines Tuns und die selbstkritische Befragung des Gewissens abverlangt werden, sieht sich der Muslim verpflichtet, Allahs Gesetz unter Absehung von den gerade obwaltenden Gegebenheiten der Welt und von den Regungen des Ichs zu verwirklichen. Die Geschichte dieses eigentümlichen muslimischen Spannungsverhältnisses zur «Welt» hängt mit der im Koran vorliegenden partiellen Delegitimierung der Ratio zusammen: Der eigenmächtige Gebrauch des Verstandes führt geradewegs in den Ungehorsam gegen Allah (z. B. Sure 15, 28-35); Allah wollte, dass Abraham aus der Wandelbarkeit der Welt auf die Existenz des Einen, Unwandelbaren schloss, aber nicht wegen dieses Schlusses ist die Vielgötterei ein Irrtum, sondern nur, weil Allah zu ihr keine Vollmacht erliess (Sure 6, 74-81).
[…]
Ende des vergangenen Jahres erreichte den Beobachter jedoch ein ermutigendes Zeichen: Ein in Zürich gegründetes «Forum für einen fortschrittlichen Islam» will eben jene Eingrenzung der Ratio durchbrechen – ein schwieriges Unterfangen, an dessen Ende aber die Austrocknung des endogenen Radikalismus und die schöpferische Teilhabe von Muslimen am innerweltlich orientierten Diskurs der säkularisierten Gesellschaft stehen könnten.“

Tilman Nagel ist als Professor für Arabistik und Islamwissenschaft an der Universität in Göttingen tätig. Er hat zahlreiche einschlägige Bücher verfasst.  

http://www.moschee-schluechtern.de/presse/pressespiegel_2005.htm

 

Tragen Sie sich für den wöchentlichen Medienüberblick - den Freitagsbrief - ein!

Es wird kein Spam geschickt! Erfahren Sie mehr in unserer Datenschutzerklärung.