Was die Zuwanderung mit Deutschland macht

Gastbeitrag von Steven Vertovec
„Allein in diesem Jahr könnten 1,5 Millionen Flüchtlinge nach Deutschland kommen – die größte Herausforderung seit der Wende. Die New York Times veröffentlichte vor einigen Wochen eine Karikatur: Sie zeigte den „neuen Mauerfall“ mit Angela Merkel und jubelnden Deutschen, die Flüchtlinge durch eine niedergerissene Mauer zwischen dem globalen Norden und Süden hindurch willkommen heißen. Man sollte diesen Vergleich nicht überstrapazieren.
Aber: Jedes tief greifende Ereignis dieser Art zieht weitreichende politische, ökonomische und soziale Restrukturierungen nach sich. Bis sich die Veränderungen durch die neue Einwanderungswelle voll entfalten, wird es – wie nach der Wende – Jahrzehnte dauern. Und sie werden voraussichtlich in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft sehr unterschiedliche Entwicklungen in Gang setzen.
Deutschland muss davon ausgehen, dass eine wachsende Zahl von Menschen kommen wird. Weil neue Migration weitere Migration nach sich zieht. Mit dem Überqueren von Grenzen weiten sich transnationale soziale Netzwerke aus. Sie befördern – unterstützt durch Smartphones – den Informationsfluss zu den Zurückgebliebenen hinsichtlich Reisemöglichkeiten, Arbeits-, Wohnungssuche und vieles mehr.“
Zum Artikel:
http://www.sueddeutsche.de/politik/fluechtlinge-was-die-zuwanderung-mit-deutschland-macht-1.2710550

Die Welt blickt ratlos bis euphorisch auf Deutschland

„Britische Freunde dagegen neigen durchaus dazu, die neue „german fraternity“ als bedauerlichen Anfall von verwirrender Naivität (baffling naiveté) zu verstehen – so höflich formuliert man es, wenn man meint:
Ihr seid verrückt geworden.
Die Gegenrede, es spreche wenig dafür, Angela Merkel sei über Nacht naiv geworden, enthüllt den ganzen Abgrund der Meinungen. Realpolitisch, so lässt sich eine durchaus verbreitete britische Diagnose zusammenfassen, wäre es klüger gewesen, den griechischen Steuersündern etwas mehr entgegenzukommen und die syrischen Flüchtlinge etwas mehr auf Abstand zu halten – um der Raison Europas willen.“
Zum Artikel:
http://www.sueddeutsche.de/kultur/identitaet-deutschland-stunde-null-1.2802349
http://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/hans-werner-sinn-im-interview-die-integration-der-fluechtlinge-wird-teuer/12782248.html
Kommentar GB:
Es ist offensichtlich absurd zu meinen, praktisch ganz Europa befinde sich im Hinblick auf das Immigrationsproblem im Irrtum und nur die grün-antideutschen flüchtlingsidealistischen Geisterfahrer einschließlich der beiden Kirchen hätten die richtige politische Richtung eingeschlagen.
http://www.weser-kurier.de/region_artikel,-Es-darf-keine-Kapazitaetsgrenze-geben-_arid,1283588.html
Was diesen vorwerfen ist, dass sie in ihrer Gesinnungsethik stecken bleiben, aber weder die Frage nach den moralischen Pflichten und erst recht nicht nach den Folgen überhaupt oder mit angemessener Ernsthaftigkeit stellen. Solange sie das nicht tun, sind sie intellektuell nicht ernst zu nehmen.
Gesinnungsethik, Pflichtenethik und Folgenethik müssen zusammen gedacht werden. Jede der drei Perspektiven hat ihre eigene Bedeutung und Gültigkeit, nicht eine allein. Das bedeutet, dass auch Sachprobleme einzubeziehen sind, zum Beispiel die schlichte, aber manche bereits überfordernde  Einsicht, dass es Kapazitätsgrenzen gibt, die als Restriktion in die pflichtenethische Überlegungen mit eingehen, oder dass es kurz-, mittel- und langfristig unterschiedliche Folgen geben mag, die ökonomisch nicht tragbar oder die nicht sozialverträglich sind, und die damit bereits den gesinnungsethischen Zugang und erst recht die pflichtenethischen Überlegungen relativieren.
Ein Blick auf die aktuellen immigrationspolitischen Konflikte ergibt, dass die gesinnungsethische Perspektive zu sehr auf die pflichtenethische Perspektive übergreift und dabei umso mehr in Widerspruch zur folgenethischen Perspektive gerät. Indem letztere nicht hinreichend berücksichtigt wird, entstehen unerwünschte Reaktionen, die vermeidbar gewesen wären, wenn darauf verzichtet worden wäre, die folgenethische Perspektive zu marginalisieren.
Etwas mag gesinnungsethisch gut sein, aber wenn es folgenethisch schlecht ist, dann ist das gesinnungsethische Urteil in seiner Einseitigkeit falsch. Man kann moralphilosophisch sehr leicht irren, wenn man nicht weit genug denkt, oder wenn man das Problem so vereinfacht, dass es dadurch verfälscht wird. Dem spontanen gefühlmäßigen Impuls gesinnungsethischer Art empathisch zu folgen, das ist zwar nicht falsch, ist aber deswegen noch nicht richtig, denn es ersetzt nicht die sorgfältige Reflexion des Gesamtproblems.
Gut gemeint ist bekanntlich etwas anderes als gut.
 
 
 
 
 
 
 
 
 

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