Politische Bildung

Hans Peter Klein

18 | F O R U MJ U N G E F R E I H E I T
Nr. 24 / 23 | 9. Juni 2023

Prof. Dr. Hans Peter Klein, Jahrgang 1951, lehrte bis 2018 Didaktik der Biowissenschaften an der Goethe Universität Frankfurt. Er
ist Präsident der gleichnamigen Gesellschaft und war Mitbegründer und langjähriger Geschäftsführer der Gesellschaft für Bildung
und Wissen.

Es dominieren in Mathematik Aufgaben wie Menschenrechtsbildung, Werteerziehung, politische Bildung, geschlechtersensible und interkulturelle Bildung. Die Digitalisierung wird das Problem der falschen Bildung eher verschärfen. Gerade in Zeiten zunehmender Desinformation und Deepfakes im Internet ist die gebotene Fachlichkeit wichtig. Schüler sitzt in einer Prüfung mit einem Taschenrechner:

Die Qualität der deutschen Bildung nimmt ab, im Vergleich zum Ausland und zu Deutschland früher

 

Eigentlich sollte im deutschen Bildungswesen mit PISA und Bologna seit der Jahrtausendwende alles besser werden. Für die Hochschulen wurde in Anlehnung an das angloamerikanische System ein zweistufiges Studienmodell samt der Einführung von Modulen sowie Credit Points und der Berechnung von „Workloads“ (Arbeitsbelastungen) beschlossen. Heute ist die Umstellung trotz aller Kritik weitgehend abgeschlossen, wenn auch keines der hochgesteckten Ziele erreicht wurde.

Für die Schulen wurden nach dem nur mittelmäßigen PISA-Abschneiden Bildungsstandards auf den Weg gebracht und gleichzeitig eine Kompetenzorientierung eingeführt. Sie sollte garantieren, daß die Schüler nicht nur etwas wissen, sondern dieses Wissen anwenden kön-
nen. Gleichzeitig sollte ein Bildungsmonitoring die zukünftige Vermessung der Bildungsergebnisse erleichtern und Schwachstellen erkennen lassen, um entsprechend gegensteuern zu können.

Das Konzept der von der OECD auf den Weg gebrachten Ökonomisierung der Bildung traf bereits in den Frankfurter Einsprüchen von 2005 auf erbitterten Widerstand. Frühzeitig begab sich das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) freiwillig in die
babylonische Gefangenschaft der hinter PISA agierenden empirischen Bildungsforschung, in der es bis heute verweilt. Erfolge bleiben Mangelware. Seit Jahren übertreffen sich die Medien mit fast schon täglichen Katastrophenmeldungen aus dem Schulwesen. Wie konnte
es dazu gekommen?

Zuerst wurde falsch beurteilt, was Bildung überhaupt bewirken kann. Der Bildungshistoriker Heinz-Elmar Tenorth sagte 2021 der Zeit, daß individuelle Leistung und Karriere durch „Aufstieg durch Bildung“ zu begrüßen sei. Wenn aber daraus eine politische Strategie abgeleitet
werde, gesellschaftliche Gleichheit durch pädagogische Gleichheit erreichen zu können, müsse dieses Konzept des Hochschulzugangs für alle scheitern. Außerdem würden dadurch alle Lebensläufe ohne Studium zu Unrecht entwertet, wie gerade der eklatante Handwerker-notstand zeigt.

Des weiteren berge die Bildungspropaganda zwei Fehler in sich. Bildung sei überschätzt. Sie löse kein gesellschaftliches Problem, auch nicht den Umbau der Sozialstruktur. Und weiter verringere sich der ökonomische Vorteil eines Studiums fortlaufend. Schon vor einhundert
Jahren hätten linke Sozialdemokraten vor dem „Bildungswahn“ gewarnt, der darin bestehe, „eine politisch-ökonomische Herstellung einer gerechten Nation zu versäumen und alle Hoffnung in die Bildung zu setzen.“

Für die Abwärtsspirale in den schulischen Leistungen ist die inflationäre Entwicklung hochschulberechtigender Zertifikate eine  unvermeidbare Folge dieser Bildungsagenda. Hamburg und Berlin hatten bei der Allgemeinen Hochschulreife 2020 die höchsten Werte mit 55,7 Prozent und 49,1 Prozent, Bayern und Sachsen-Anhalt die niedrigsten mit 30,7 Prozent und 32,7 Prozent. Die Erhöhung der Abiturientenzahlen in den letzten 20 Jahren entspricht nichts Anderem als der alchemistischen Goldherstellung. Sie ist nur möglich geworden durch eine teilweise dramatische Nivellierung der Ansprüche. Nicht   nur in den Städten wechseln heute über 60 Prozent der
Viertkläßler auf Elternwunsch ans Gymnasium. Einer der ersten Hinweise auf die Nivellierung der Ansprüche war eine Untersuchung, die den Nachweis erbrachte, daß selbst Schüler der 9. Klasse ohne Probleme imstande waren, eine Leistungskursarbeit aus dem Zentralabitur in Biologie in NRW erfolgreich zu bearbeiten, ohne jegliche Vorbereitung und ohne überhaupt das Thema zu kennen.

Dies war nur möglich, weil die für die Lösung notwendigen Sachverhalte in aufwendigen Texten und Grafiken in der Aufgabenstellung vorhanden waren. Lesekompetenz reichte für die Lösung nahezu aller Teilaufgaben aus. Geradezu toxisch sind derartige  kompetenzorientierten Formate in der Mathematik. Nicht nur im Abitur kommt es weniger auf die Beherrschung der zugrundelie-
genden Rechenarten an – die übernimmt der grafikfähige Taschenrechner –, sondern auf die Entkleidung eines teilweise selbst für Mathematiker schwer verständlichen Textes, der zudem noch häufig mit zwanghaft irrealen Anwendungsbezügen überfrachtet ist. Die Folge davon ist, daß diese Art kompetenzorientierter Schulmathematik mit der Hochschulmathematik wenig gemeinsam hat.

Derartige Aufgabenstellungen sind an den Universitäten unbekannt. Dies wohl wissend stattet die Politik die Hochschulen mit viel Geld dafür aus, eine Art Nachhilfekurse vor der Aufnahme des Studiums für nicht studierfähige Abiturienten anzubieten. Diese enthalten in ihrer ersten Phase sogar Mittelstufenmathematik, die vielen Schülern von ihren Lehrern ganz offensichtlich nicht mehr vermit-
telt wird. Universitätsmathematiker sind entsetzt. „Von allen guten Geistern verlassen“, „Denken darf hier nur der Taschenrechner“ oder „Mathematikoutsourcing durch Kompetenzorientierung“ sind nur einige der Kommentare.

Die Folgen sind verheerend. Der Mathematiker Bernhard Krötz zog jüngst ein vernichtendes Fazit über das deutsche Mathematik-Abitur. Er verglich die Anforderungen in Nordrhein-Westfalen mit der „Joint Entrance Examination“ in Indien. Dieses muß man bestehen, um
in Indien an eine Hochschule aufgenommen zu werden. Deutsche Schüler wären mit den dort gegebenen Aufgaben völlig überfordert. Ein Taschenrechner ist in den Prüfungen verboten. Den neuen Kernlehrplan in NRW zerlegt der Kollege in alle Einzelteile und stellt ein erbärmliches fachliches Niveau fest. Stattdessen dominieren im neuen Kerncurriculum Mathematik fachübergreifende Quer-
schnittsaufgaben wie Menschenrechtsbildung, Werteerziehung, politische Bildung, Bildung für die digitale Welt und Medienbildung, geschlechtersensible und interkulturelle Bildung. Anscheinend sollen die MINT-Fächer in den sozialwissenschaftlichen Bereich verschoben werden.

Diese Form kompetenzorientierter Lehrpläne, die weitgehend die gebotene Fachlichkeit vermissen lassen, ist toxisch für das Bildungswesen. So wird Migrantenkindern, die nur wenig Deutsch sprechen, die Mathematik durch unnötigen Textballast erschwert. Sie werden ohnehin durch die derzeit bevorzugte Lernkultur mit der Funktion des Lehrers als Moderator entscheidend benachteiligt.
Dieses Modell befürwortet keine einzige Studie weltweit. Und gerade Einwanderer benötigen eine besondere Aufmerksamkeit und sprachliche Führung durch die Lehrkräfte, die sie zuhause nicht haben. Betroffen sind nicht nur die Mathematik, sondern alle MINT-Fächer.

Bei fehlendem Lehrernachwuchs vor allem im Fach Mathematik am Gymnasium fällt der neuen Kultusministerin in Berlin nichts Besseres ein, als die Anforderungen durch Abkopplung vom fachlichen Bachelor weiter entscheidend abzusenken. So soll die hohe Abbrecherquote
von über 40 Prozent im gymnasialen Lehramtsstudium verringert werden.

Auch ökonomisch ist diese Entwicklung toxisch. Schon jetzt haben wir den Anschluß an die digitale Welt komplett verloren. Alle 40-DAX Konzerne zusammen erreichen nicht einmal die Marktkapitalisierung eines der US-amerikanischen Schwergewichte Apple, Alphabet,
Meta oder Amazon. Nicht nur die Chinesen haben uns längst selbst in unseren Leuchtturm-Industriezweigen überholt. Die Kronjuwelen der deutschen Wirtschaft beginnen das Land zu verlassen, so die Befürchtung von Ex-Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD).

Eine längst überfällige Gegensteuerung zeichnet sich nirgends ab. Auch wanderten bisher kaum gut ausgebildete Fachkräfte zu, obwohl sie immer wieder gebetsmühlenartig eingeladen werden. Stattdessen zogen seit 2015 vornehmlich bildungsferne Schichten zu, die das  deutsche Bildungswesen noch weiter in Schieflage bringen Serap Güler, selbst mit Migrationshintergrund und von 2017 bis 2021 Staatssekretärin für Integration im Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration in Nordrhein-Westfalen, kritisierte diese Ayslpolitik bei Markus Lanz scharf und sprach in Zusammenhang mit der Gewährung der höchsten Sozialleistungen im europäischen Raum von einem Pull-Effekt und dem falschen Signal. Der IQB-Bildungstrend 2021, der auf der empirischen Ermittlung von Daten der Kompetenzstufen in Mathematik und Deutsch am Ende der vierten Klasse beruht, bestätigt diese negative Entwicklung. Erst einmal
wurde eine signifikante Abnahme in allen Kompetenzbereichen nachgewiesen. Weder die Optimalstandards noch die Regelstandards und nicht einmal die Mindeststandards werden von großen Teilen der Probanden erreicht.

Interessant ist nun ein Vergleich der Ergebnisse der IQB-Bildungstrends 2011, 2016 und 2021. Zwischen 2011 und 2016 traten im Kompetenzbereich Lesen keine Veränderungen auf. Lediglich im Bereich Zuhören und der Mathematik waren die Ergebnisse geringfügig schwächer.

Ein Blick auf die zuwanderungsbedingten Unterschiede zeigt allerdings ein anderes Bild: Im Jahr 2021 haben rund 38 Prozent der Kinder einen Zuwanderungshintergrund, ein Zuwachs von 14 Prozent gegenüber 2011. Aus der Studie läßt sich ablesen, daß die Kompetenzein-
bußen bei diesen Schülern signifikant höher ausfielen als bei Schülern ohne Migrationshintergrund. Mindeststandards werden insbesondere dann nicht erreicht, wenn zu Hause kein Deutsch gesprochen wird. War Georg Pichts Bildungskatastrophe 1964 noch durch das katholische Mädchen auf dem Land exemplarisch beschrieben, sind es heute die zunehmenden Brennpunktschulen mit hohen Migrantenanteilen aus bildungsfernen Schichten.

Wie konnte die Politik es zulassen, daß nach amerikanischem Vorbild Brennpunktstadtteile entstanden sind? Jeder, der noch über gewisse finanzielle Mittel verfügt und seinen Kindern eine angemessene Bildung zukommen lassen will, zieht in bessere Wohngegenden, was das
Problem verschärft. Die Schule ist nicht die Reparaturanstalt für derartige bildungs- und gesellschaftspolitische Fehlentwicklungen. Ihre eigentliche Kernkompetenz ist die Vermittlung von Bildung und Wissen im sozialen Raum, wozu vielfach aber die Voraussetzungen fehlen.

Die entscheidende Frage ist, wieviel Unbildung das Land sich noch leisten kann?

Die Digitalisierung wird dieses Problem eher verschärfen. Gerade in Zeiten zunehmender Desinformation und Deepfakes im Internet ist die gebotene Fachlichkeit wichtiger denn je. Künstliche Intelligenz (KI) und ChatBots dürften das so dringend notwendige fachliche, soziale
und vor allem personale Lernen eher behindern oder gar abschaffen als fördern. Es scheint, als sei sich die Politik
oder auch die Big Player in KI des mündigen Bürgersüberdrüssig geworden, denn Bürger mit nur gefühltem Wissen sind leichter manipulierbar.

Die Politik für mehr Abiturienten, mehr Studenten, „mehr Bildung“ erreicht nur das Gegenteil dessen, was sie anstrebt

+++

Kommentar GB:

Politische Bildung ist etwas völlig anderes als ideologische Indoktrination.

Es geht dabei um Kombination von individueller Urteilskraft und Handlungsbereitschaft.

Sie ergibt sich aus der Reflexion des historischen und sonstigen relevanten Wissens

in situativer Verbindung mit Mut und Verantwortung.

 

 

 

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