Bildungspolitik paradox

18. September 2022

 

Bayern passt sich nach unten an, Hamburg will die Ansprüche hochfahren – und bleibt stecken

 

Von Josef Kraus

 

In der Bildungspolitik gelten die alten Schlachtordnungen nicht mehr. Bis zur Jahrhundertwende wusste man:

  • Die A-Länder, also die SPD-geführten, machten in puncto schulischer Leistungsanforderungen auf Dumping; denn anders konnten sie nicht zu ihrem Ziel kommen, das Abitur zum Standard zu machen.
  • Die B-Länder, also die von der CDU/CSU geführten, hielten an gewissen Ansprüchen fest und drohten den A-Ländern schon auch mal mit der Nicht-Anerkennung von „Discount“-Abschlüssen.

 

Ab 2000 hat sich das geändert. Plötzlich waren alle im „Pisa“-Taumel.  Und alle glaubten der für „Pisa“ verantwortlichen OECD (einer Wirtschafts-organisation), dass Deutschland mehr Abiturienten und Studenten brauche.

 

Da wollten auch die B-Länder, also die unionsgeführten, nicht zurückstehen:

– Entweder wollten ihre Länderchefs mit Schule nichts mehr zu tun haben und reichten das Schulressort gleich an den kleinen Koalitionspartner weiter (Saarland, Hessen, NRW, Bayern);

– oder aber sie drehten planwirtschaftlich unter Inkaufnahme von Niveauabsenkungen an der Abitur-Vollkasko-Schraube. Ganz schön populistisch, denn welche Eltern hätten nicht gern ein Kind mit Abitur oder gar mit Spitzenabitur.

 

Und nun das jüngste Beispiel von Dumping: Das vormals ach so anspruchsvolle Bayern konkurriert seit fünf Jahren mit Thüringen und Brandenburg darum, die Abitur-Schnitte gar Richtung 2,0 zu senken.

2022 waren es in Bayern 2,15. 2,15 – das war früher ein Spitzenabitur; jetzt hat bald die Hälfte der Abiturienten eine „1“ vor dem Komma. Dazu passt, dass Bayern sogar „Faust“ als Pflichtlektüre der gymnasialen Oberstufe cancelt.

 

Da mutet es paradox an, dass ausgerechnet Hamburg, das bei inner-deutschen Schulvergleichen überwiegend Mittelfeldplätze einnahm, die schulischen Ansprüche durch anspruchsvollere Lehrpläne, mehr Pflichtstoff und mehr Prüfungen erhöhen will.

 

Aber da hat man die Rechnung ohne die „Betroffenen“ gemacht: Schülern, Eltern, Lehrern, Schuldirektoren – und natürlich so manch Halbgebildete in Parteien, auch solche, die keinerlei Berufs- und Studienabschluss haben.

 

Was ist der Hintergrund? Die geltenden Lehrpläne der Hansestadt stammen aus dem Jahr 2009. Nun sollen die Bildungspläne reformiert werden. Hamburgs Schulsenator Ties Rabe (SPD), in diesem Amt seit 2011, stellte denn auch im März 2022 die Entwürfe für neue Bildungspläne vor. 3571 Seiten für 36 Fächer und für alle Schularten kamen zustande. Ab Herbst 2023 sollen sie in Kraft treten.

 

Dagegen formiert sich nun ein Sturm der Entrüstung. Erstens heißt es, die geplanten und verbindlichen Kerncurricula würden die pädagogischen Freiheiten der Lehrer einschränken.

 

Zweitens sehen Lehrer und Eltern die Schüler aufgrund der angeblich überbordenden Stofffülle zu bloßen Aufsage-Automaten degradiert.

 

Drittens regt sich massiver Widerstand dagegen, dass in den Hauptfächern mindestens vier Klausuren pro Jahr geschrieben werden sollen. Außerdem sollen die sog. Klausurersatzleistungen abgeschafft werden, die es in Hamburg bis hinein in die Abiturprüfung gibt. Zu diesen „Ersatzleistungen“ gehören Präsentationen oder Referate zu selbst gewählten, zu Hause – mit wessen Hilfe auch immer – erarbeiteten Fragestellungen.

 

Und viertens gibt es Widerstand dagegen, dass die schriftlich erbrachten Leistungen 50 Prozent einer Fachnote in einem Hauptfach ausmachen sollen. Die Kritiker wollen, dass die – in aller Regel milderen – mündlichen Noten übergewichtig verrechnet werden.

 

Bildungssenator Rabe, der früher selbst Deutsch- und Geschichtslehrer an einem Gymnasium war, hat die Rechnung, also seine durchaus ehrgeizigen Pläne, offenbar ohne die „Betroffenen“ gemacht. Rund 300 kritische bis vernichtende Stellungnahmen gingen ein: von Lehrerverbänden, Kammern, Kirchen, Schülervertretungen, Elternvertretern usw. Die Hamburger Presse, voran die Morgenpost, ätzt, die Entwürfe der neuen Bildungspläne führten im Rückwärtsgang in die Zukunft.

 

Selbst Gymnasialdirektoren meinen, die neuen Lehrpläne lieferten „keine geeignete Grundlage für die Gestaltung von Bildung im 21. Jahrhundert“.

 

Ein Bildungsforscher namens Aladin El-Mafaalani toppt die Direktoren und meint: „Wir wissen nicht, welchen Herausforderungen sich ein heute geborenes Kind im Laufe seines Lebens wird stellen müssen.“

 

Der Herr Professor glaubt offenbar, in dreißig Jahren gäbe es eine andere Mathematik, andere naturwissenschaftliche Grundgesetze, gänzlich andere englische Vokabeln, eine völlig andere deutsche Sprache, andere historische Daten. Wenn dem so wäre, dann könnte man Schule und Hochschule ja ganz abschaffen.

 

Nein, es geht darum, dass die junge Generation mit einer breiten Wissensbasis einen Vorrat vermittelt bekommt, aus dem heraus Neues hinzugelernt werden kann.

 

Will sagen: Noch weniger konkretes Wissen zu verlangen als bislang hieße, noch mehr Heranwachsende heranzuziehen, die ein Wissen unter aller Kanone haben.

 

Nein, kanonisches Wissen ist Mündigkeit. Denn wer nichts weiß, muss alles glauben. Mehr noch: Wer kein konkretes Wissen hat, kann nicht einmal richtig googeln.

 

Es muss also Schluss sein damit, die Bildungspläne gefälligkeitspädagogisch immer noch mehr abzuspecken. Denn Bildung geht nun mal nicht ohne Anstrengung.

 

Ansonsten wissen wir, dass neues Wissen sich am besten hinzulernen lässt, je mehr Wissen bereits vorhanden ist.

 

Das gilt auch für die Förderung von Kreativität: Denn diese ist laut Thomas Alva Edison zu 1 Prozent Inspiration, aber zu 99 Prozent Transpiration. Mit anderen Worten: Auch Kreativität muss man sich ersitzen und erschwitzen.

 

+++

 

 

 

Tragen Sie sich für den wöchentlichen Medienüberblick - den Freitagsbrief - ein!

Es wird kein Spam geschickt! Erfahren Sie mehr in unserer Datenschutzerklärung.