Was auf dem Spiel steht

von Berthold Kohler
Frieden, Freiheit und Wohlstand werden heute als selbstverständlich und kostenlos angesehen. Doch das erträumte Europa verwittert. Wer es retten will, muss auch über einen Plan C nachdenken. (…)
„Die Entscheidung der Kanzlerin, bis zu seiner Verwirklichung so gut wie alle Migranten aufzunehmen, halten nicht nur ihre Kritiker in Deutschland für einen schwerwiegenden Fehler. Merkels Glauben an die Macht der Integration teilen nur wenige. Kein europäischer Partner ist bereit, Erklärungen zur Verteilung der Lasten blanko zu unterschreiben, solange Deutschland den Migranten offensteht wie ein Scheunentor. Mit ihrem Sonderweg hat Merkel ihre Autorität im In- und Ausland untergraben.“ (…)
http://www.faz.net/aktuell/politik/fluechtlingskrise/die-migrationskrise-offenbart-das-hauptproblem-europas-14031854.html
Kommentar GB:
Das politische Mehrheitskonzept der Eliten, nicht ein „Europa der Vaterländer“ (Charles de Gaulle), sondern, in Anlehnung an das Modell USA,  die „Vereinigten Staaten von Europa“ anzusteuern, dürfte angesichts der Renationalisierungstendenz, die durch die ungesteuerte und unerwünschte Massenimmigration voran getrieben wird, vor dem Scheitern stehen.
Das bedeutet, Brüssel würde von einer jetzt relativ starken zu einer relativ schwachen Zentrale werden, und die nationalen Parlamente und Regierungen würden entsprechend gestärkt. Wegen des Demokratiedefizits der EU wäre das demokratiepolitisch sogar ein Gewinn, wenn nicht national-autoritäre Tendenzen ihrerseits die Demokratie gefährdeten, was sich leider abzeichnet.
Der schlimmste Fall wäre der völlige Zerfall der EU, deren Konsequenzen im einzelnen zwar noch nicht absehbar, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit negativ bis sehr negativ wären. Es besteht, wenn das zutrifft, guter Grund, die europäische Einigung zu überdenken und zu modifizieren, keinesfalls aber, sie aufzugeben.
Daher kommt es darauf an, das Macht- und Zuständigkeitsverhältnis zwischen Brüssel und den Nationalstaaten rechtlich und faktisch neu zu justieren, und zwar so, dass nur die politischen Funktionen, die der europäischen Koordination zwingend bedürfen, in Brüssel konzentriert werden, während alle anderen Funktionen den Nationalstaaten überlassen blieben.
Europa würde sich durch die Verwirklichung eines solchen Modells in der Weltpolitik zwar bewußt zurücknehmen und sich gewissermaßen auf eine defensive Rolle beschränken, aber mit dem Vorteil, dass die europäischen Bevölkerungen ein solches „Europa der Vaterländer“ mittragen würden, was beim europäischen Elitenkonzept offensichtlich nie der Fall gewesen ist: es ist dies eine zentrale, kaum je ausgesprochene Lebenslüge der Europapolitik.
Die deutsche Austeritäts- und Immigrationspolitik haben die vorher vorhandene politische Konsensualität  in Europa zersetzt und aufgelöst, und die Renationalisierung ist die Antwort der Bevölkerungen auf diesen Zersetzungsprozeß. Tatsächlich kann auf eine andere Institution als den Nationalsstaat zur Schließung der Steuerungsdefizite gar nicht zurückgegriffenen werden.
Die – m. E. sehr erhebliche – Gefahr besteht darin, dass dieser Prozeß überschießt und von einer begrenzten Stärkung nationaler Strukturen mit fließenden Übergängen zu einer nationalistischen Politik überleitet, die latente nationale Gegensätze aktulisieren könnte. Wir haben nach Titos Tod gesehen, was in Jugoslawien geschehen ist und wie es zerfallen ist. So etwas kann für Europa niemand wollen. Aber das Risiko ist zweifellos da. Insbesondere die Nato-Frontstellung zu Rußland, wie sie in der Ukraine-Politik sichtbar wird, gibt m. E. zu den größten Besorgnissen Anlaß.
Das Problem der EU-Politik besteht darin, dass sich eine neue innereuropäische Balance vermittelt über den Konflikt zwischen der Zentrale und renationalisierten Einzelstaaten herausbildet, dass aber das handelnde politische Personal ganz überwiegend den alten Eliten angehört, die sich der Zielvorstellung der „Vereinigten Staaten von Europa“ verpflichtet fühlen. Allerdings bröckelt das, und abgesehen von Osteuropa sind besonders die Briten höchst skeptisch. Die EU erodiert rasch, und die Versuche, die alte politische Linie erneut durchzusetzen, sind zum Scheitern verurteilt, weil die Machtressourcen nicht mehr gegeben sind, und weil die Einigkeit dafür nicht mehr vorhanden ist.
Die Alternative besteht wahrscheinlich darin, das  bisherige europapolitische Ziel der „Vereinigten Staaten von Europa“ aufzugeben oder sie deutlich zu modifizieren, oder ein „Europa der Vaterländer“ anzusteuern, was vermutlich ein Ziel wäre, das eine sehr hohe Zustimmungschance in ganz Europa hätte.
Gelänge es Europa, sich trotz der offenbar zunehmenden weltpolitischen Spannungen und Konflikte zurückzuhalten und sich ihnen gegenüber so weit wie möglich abzuschirmen, dann wäre die EU zwar kein global wirksamer politischer Akteur, oder sie hätte global jedenfalls kein großes Gewicht, könnte dafür aber eine relativ hohe gesellschaftliche Stabilität absichern. Und das zu erreichen wäre angesichts der chaotisierenden globalen Prozesse bereits eine große Leistung.
 
 
 
 
 
 

Tragen Sie sich für den wöchentlichen Medienüberblick - den Freitagsbrief - ein!

Es wird kein Spam geschickt! Erfahren Sie mehr in unserer Datenschutzerklärung.