und die Rezension von Michael Mansion in:
https://frankfurter-erklaerung.de/2019/02/prof-rainer-mausfeld-warum-schweigen-die-laemmer/
von R. H. :
R. Mausfeld analysiert umfassend und subtil die Mechanismen der politisch-medialen sowie sprachlich-kommunikativen Indoktrination der Beherrschten durch die Herrschenden, mit der Folge der Erosion der Demokratie in verschiedenen Bereichen und Ebenen der Gesellschaft. Angesprochen werden von ihm auch die Wechselwirkungen zwischen Gesellschaft und Individuum.
Ohne auf Details einzugehen – was sicher zu umfangreich und möglicherweise auch nicht wünschenswert wäre – scheint mir aber, dass er gerade diese Subjekt-Objekt-Dialektik in seiner Analyse suboptimal bzw. unzureichend thematisiert hat. Im Mittelpunkt steht m. E. zu sehr die „lineare“ (kausalmechanische) Indoktrination der Herrschenden und es entsteht der Eindruck, dass das Individuum diesem „Druck“ mehr oder weniger fatalistisch ausgeliefert ist und eine Rückkopplung des Individuums scheinbar nicht bzw. nur schwer möglich ist : „Die Akzeptanz des Neoliberalismus durch Bevölkerungsmehrheiten trotz dessen zerstörerischer Tendenz, sieht er als eine Folge fortgesetzter Indoktrination.“
Konkret läuft deshalb jede weitere Betrachtung auf einen Kernsachverhalt hinaus, nämlich der komplexen Thematik der subjektiven Widerspruchsverarbeitung, 1 also dem „gesamtgesellschaftlich vermittelten Entwicklungswiderspruch der Persönlichkeit: Das individuelle Streben nach Erweiterung der Realitätskontrolle, Fähigkeitsentwicklung, gesellschaftlicher Integration, Selbstverwirklichung etc. – kurz: nach einem sinnerfüllten Leben – gerät in einen gesellschaftsimmanent unaufhebbaren Gegensatz zu den herrschaftlich gesetzten Entwicklungsbeschränkungen. Da dieser antagonistische Entwicklungs-widerspruch der Persönlichkeit im Prinzip von allen beherrschten Individuen subjektiv erfahren (erlebt) wird und insofern als allgemeinste „initiierende“ Voraussetzung/Möglichkeitsbedingung für die Hineinentwicklung in kritisch-widerständige Tätigkeitszusammenhänge anzusehen ist, bilden die in der Realität feststellbaren, interindividuell differierenden Verarbeitungsweisen den entscheidenden Problemgegenstand. Denn in Abhängigkeit von den individuell unterschiedlichen Verarbeitungsformen dieses Widerspruchs resultieren andersartige, ja tendenziell gegensätzliche personale Entwicklungslogiken der Lebensführung und – Gestaltung: z.B. ein konformistisches Sich-Einrichten in der Abhängigkeit und Fremdbestimmtheit; ein „zerrissenes“, durch jähe Stimmungsumbrüche und Einstellungsmetarmorphosen gekennzeichnetes Leben zwischen Auflehnung („Extase“) und Resignation (Depression); eine „kämpferisch widerständige“ Lebensführung in – durchaus nicht unkomplizierter und problemloser – Gemeinschaft mit „Gleichgesinnten“ etc.“
http://www.praxisphilosophie.de/krauswid.pdf
„Einerseits ist das individuelle Subjekt auf zwischenmenschlichen Verkehr in konkreten dyadischen oder gruppenförmigen Tätigkeitskeits- und Kommunikationsbeziehungen ausgerichtet, andererseits benötigt es eine relative (reflexive) Autonomie und (identitätsbezogene) Distanz gegenüber den kollektiven ‚Einbindungen‘. 3) In diesem Bestimmungskontext des Psychischen als Vermittlungs- und Verarbeitungsinstanz der widersprüchlichen Beziehung von „Individuellem“ und „Gesellschaftlichem“ ist auch die Konstituierung menschlicher Subjektivität (verstanden als Einheit von Reflexivität,
Selbstbewußtsein/Selbstidentität und subjektiver Sinnebene) zu betrachten.“
Zusammenfassend lassen sich demnach folgende Ebenen der psychischen Tätigkeit als subjektive
Widerspruchsverarbeitung unterscheiden:
1) Gesellschaftliche Arbeit/gegenständliche Tätigkeit als „Lösung“ des Mensch-Natur-Widerspruchs;
2) Existenzieller (Regulations-)Widerspruch zwischen Individuum und Sozium;
3) Widerspruch zwischen individuellem Streben nach Selbstverwirklichung und gesellschaftlichen Entwicklungsbehinderungen innerhalb der antagonistischen Zivilisationsstufen;
4) Intersubjektive Widerspruchsebene: das Individuum als aktives Element des Konfliktgeschehens zwischen sozialen Gemeinschaften, Klassen, Interessengruppen etc.;
5) Widerspruch zwischen individuellem Orientierungsbedarf und in-sich-selbst widersprüchlichem Bedeutungssystem;
6) Individueller Selbstwiderspruch („Bidominanz“).
Der überwiegende Teil der Bevölkerung verharrt m. E. in der stagnativen Form der Widerspruchsverarbeitung:
„Angesichts der normativen Kraft der faktischen Dominanzverhältnisse ist aber – und realistischerweise wohl in erster Linie – die deformierende Einbeziehung der Beherrschten in die antagonistische Herrschaftskultur in Rechnung zu stellen. Hierfür sind insbesondere zwei Sachverhalte ausschlaggebend: a) die sozialisatorische Zurichtung der gesellschaftlichen Individuen auf die bestehenden Verhältnisse, darin eingeschlossen die Aneignung von systemfunktionalen Denkhemmungen und emotionalen Dispositionen zur „Selbstbescheidung“ und des „Sich-Einrichtens“ in der Abhängigkeit/Fremdbestimmtheit etc. und b) die multidimensionale Dominanz herrschafts-konservierender (bürgerlich-ideologischer) Bedeutungsangebote als allgegenwärtige Gedanken-, Wertungs- und Normierungsformen. Das bedeutet, daß im Rahmen der analytischen Rekonstruktion der subjektiven Widerspruchsverarbeitung insbesondere auch das „Eindringen“ herrschaftlicher Subjektivitätsmomente (Bedeutungen, Motivstrukturen, Einstellungen, Verhaltensweisen etc.) in das Denken, Fühlen und Handeln der Subalternen systematisch zu berücksichtigen ist. D.h. die Herausbildung angepaßt-konformistischer Subjektivität ist als „gleichursprüngliche“ Verarbeitungsmöglichkeit stets im Auge zu behalten.“
Die persönlichkeitsadäquate Verarbeitung der Widerspruchserfahrung wäre demnach in der progressiven Form subjektiver Widerspruchsverarbeitung zu sehen:
„Die Möglichkeit zur progressiven Umgestaltung bzw. qualitativen ‚Höherbewegung‘ der Tätigkeits-regulation ist subjektiv dann realisierbar, wenn das durch unmittelbar-konkreteWiderspruchserfahrungen in seiner Handlungs- und Orientierungsfähigkeit labilisierte Individuum im Rahmen seiner ‚suchenden‘ Reorientierungsaktivitäten auf zugleich a) objektiv-adäquate und b) subjektiv-funktionale Bedeutungen stößt und sich diese als Bewältigungsmittel der erlebten Orientierungs- und Sinnkrise aktiv aneignet. Der ‚objektiv-adäquate‘ Beschaffenheitsaspekt der gefundenen Bedeutungen bezieht sich hierbei auf die kognitive (erkenntnisbezogene) Seite der Tätigkeitsregulation (Überwindung der Orientierungskrise) und der ‚subjektiv-funktionale‘ Beschaffenheitsaspekt auf die (emotional-motivationale) Sinnebene der Persönlichkeit (Überwindung der Sinnkrise).“
Auf weitere Aussagen von m. E. wichtiger Bedeutung sei nur kurz verwiesen:
Klaus Holzkamp: Grundlegung der Psychologie. 1985:
S. 193: „Der Einzelne ist zwar einerseits an der Schaffung verallgemeinerter gesellschaftlicher Lebensmöglichkeiten … „
S. 364: „So ist also mit Bezug auf die ´Infrastrukturen´der ´Lebenslage´… „
S. 365 f.: „Gemäß dem massiven Zwangsmoment … „
Das umkämpfte Subjekt. Widerspruchsverarbeitung … 1996:
S. 96 f.: „Einerseits entsteht die psychische Widerspiegelung … „
S. 98: „Das Wesen des Psychischen … „
S. 100: „Die Psychologie ist die Wissenschaft …“
S. 106 f.: „Die psychische Tätigkeit ist folglich in dieser … „ , „In diesem Bestimmungskontext des Psychischen …“
S. 108: ´Ein Mensch ist maximal eine Persönlichkeit … ´
S. 109: ´Selbstwidersprüchlichkeit des individuellen Subjekts … „
Die Marxsche Theorie und ihre Bedeutung für eine herrschaftskritisch-emanzipatorische Gesellschafts- und Subjektwissenschaft. 2018.
Hier nur Verweis auf die Seiten.
S. 13, Fußn. 5, S. 44: „ … individuelle Moralität … „, S. 47: „ …spätkapitalistische Öffentlichkeit … „ , S. 50: „Widerstand aus der Perspektive … „ , S. 88: „Die Fähigkeit zu aktiv-tätiger Widerspruchsverarbeitung … „ , S. 89: „Zu insistieren ist folglich … „ , S. 94 f.: Zweite Kultur. S. 96 f.: „Zu fokussieren ist folglich der Prozess … „
„Im Näheren ist diese ideologische Herrschaftsausübung dadurch gekennzeichnet, dass sich bestimmte Teilgruppen der Herrschenden die realitätsbezogene Deutungs-, Interpretations- und Definitionsmacht inklusive Informations- und Wissenskontrolle unter den Nagel reißen und vermittels besonderer Einrichtungen (religiöse Institutionen, Bildungs- und Erziehungswesen, Medien, Parteien et cetera) die herrschaftskonforme Sozialisation der bevormundeten Gesellschaftsmitglieder organisieren. Es kommt folglich zur Transformation der Ideen der Herrschenden in die herrschenden Ideen.“
https://www.heise.de/tp/features/Gut-gemeinte-Absicht-die-ihre-selbstkritische-Kontrolle-verliert-3503475.html
Anmerkungen zu Prof. Rainer Mausfeld: Warum schweigen die Lämmer
(…)