Die militärische Offensive der pakistanisch-afghanischen Taliban

18. August 2021

Hartmut Krauss

Der folgende Textauszug spiegelt den bereits 2009 vorliegenden Erkenntnisstand über die ungebrochene Stärke der Taliban wider.

„Die 1947 gegründete Islamische Republik Pakistan ist das Entwicklungsprodukt der von Beginn an blutig umkämpften Aufspaltung Britisch-Indiens gemäß religiös-separatistischer Beweggründe[8]. Im Verlauf ethnoreligiöser Wanderungs-, Säuberungs- und Vertreibungsbewegungen gelangten ca. vier Millionen Muslime in das heutige Staatsgebiet Pakistans, während etwa sieben Millionen Hindus und Sikhs aus den neuen pakistanischen Gebieten in das heutige Indien gerieten. Insgesamt sollen im Verlauf dieses Bevölkerungsaustausches 750.000 Menschen ums Leben gekommen sein.

Die von Muhamad Iqbal (1879-1938) und Muhammad Ali Jinah (1876-1948) entwickelte „Zwei-Nationen-Theorie“ basierte auf dem staatstragenden Leitgedanken, dass Muslime nicht unter einer nichtislamischen Herrschaft leben dürfen. Allerdings wurde in diesem Konzept der Islam dem westlich-europäischen Diskurs des Nationalismus so weit angeglichen, dass er den Protest orthodox-konservativer und radikalislamischer Kräfte hervorrief, darunter auch der spätere Vordenker des internationalen Islamismus, Abu l-A’la al-Maududi (1903-1979). Im Gegensatz zu den islamischen Nationalisten der Muslim League verstand Maududi den Islam nicht als ethno-nationalistisches Vergemeinschaftungsprinzip, sondern als ganzheitliche Weltanschauung und staatstragende Herrschaftsideologie, welche die Einheit von Ethik, Recht und Politik in einer theokratisch verfassten Gesellschaft garantiert. Nur so könne der westliche Fremdeinfluss zurückgedrängt und die westliche Überlegenheit schließlich überwunden werden Sein Credo lautete deshalb: „Weiß Gott, wir wollen keine muslimische Regierung; wir wollen, dass der Islam, und nicht die Muslime herrschen“. Und an anderer Stelle führte er aus: „Als wahrer Muslim habe ich keinen Grund, darüber erfreut zu sein, dass die Türken in der Türkei, die Iraner in Iran und die Afghanen in Afghanistan herrschen. Als Muslim glaube ich nicht an die Idee einer ‚Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk’. Stattdessen glaube ich an die Souveränität Gottes“ (zit. n. Schulze 2002, S.152). Aufgrund dieser scharfen Grenzziehung zum muslimischen Nationalismus standen er und seine 1941 gegründete Kaderorganisation gama at-i islami (islamische Gemeinschaft) der Gründung Pakistans eher ablehnend bis distanziert gegenüber und versuchten, gegenüber dem neuen Staatswesen ihr Konzept des „islamischen Systems“ einzuklagen.

Maududis Herrschaftskonzeption ist nicht etwa Ausdruck einer „sektiererischen“ bzw. marginalen Position innerhalb der islamischen Welt, sondern vielmehr gedankliche Basis einer totalitären Ideologie mit Massenanhang, die systematisch bzw. ‚organisch’ aus dem konservativen Gesetzesislam hervorgegangen ist und auch einen großen Einfluss auf die politisch-ideologischen Formierungsprozesse Pakistans hatte und hat. So fixierte die erste Verfassung von 1956 als zentrale Zielsetzung die Errichtung eines islamischen Staates, in dem alle Gesetzte dem Koran und der Sunna entsprechen sollten. Nach dem Militärputsch des islamistisch ausgerichteten Generals Zia ul-Haq, der im Jahre 1977 den damaligen Ministerpräsidenten Bhutto entmachtete, gelangten die Kader der „Islamischen Gemeinschaft“ Maududis in führende Positionen des Regierungsapparates, während die einfachen Mitglieder auf der unteren Ebene die Rolle von paramilitärischen Stoßtrupps zur Absicherung der Militärdiktatur erfüllten.

Vor diesem Hintergrund bewirken folgende weiteren Gegebenheiten den traditionell starken Machteinfluss der ultraorthodoxen und radikalislamischen Kräfte in Pakistan:

1) Hervorzuheben ist zunächst die politisch-strukturelle Grundkonstitution, die dadurch gekennzeichnet ist, dass der Islam nicht nur Staatsreligion ist, sondern zudem wesentliche Rechtsgebiete wie das Familien- und Erbrecht sowie (seit der Militärdiktatur Zia u-Haqs) auch das Strafrecht islamisiert, d. h. an der Scharia ausgerichtet sind. (Verschmelzung von Staat, Religion und Recht)

2) Hinzu kommt – trotz des Bestehens zahlreicher Parteien – das Fehlen einer zivil-demokratischen Diskussions-, Kommunikations- und Streitkultur infolge zahlreicher militärdiktatorischer Perioden sowie die Nichtexistenz gleichgewichtig präsenter weltanschaulich-politischer Alternativangebote und Artikulationsmöglichkeiten. (Islamisch-weltanschauliche Hegemonie)

3) Trotz einer hohen Analphabetenrate von 50 Prozent (Männer 37%, Frauen 64 %) besteht keine Schulpflicht. Zudem gibt der pakistanische Staat nur 2,1% des Bruttoinlandproduktes für Bildung aus. Da sie sich keine Bildungsausgaben für ihre Kinder leisten können, schicken viele arme Eltern ihre Kinder deshalb auf eine der zahlreichen Koranschulen (Medresen), die zwar kostenlos sind, aber dafür keinerlei staatlicher Kontrolle unterliegen und ihre Zöglinge (Taliban = Schüler, Student) in zahlreichen Fällen im Sinne einer rigiden islamistischen Ideologie indoktrinieren bzw. manipulieren. Entsprechend urteilte auch Kevin Bales (2001, S. 235):

„Da es in Pakistan kein effektives öffentliches Schulsystem gibt, richten militante Sekten eigene Schulen ein. Allein im Bundesstaat Pandschab gibt es mehr als 2.5000 solcher Deeni Madressahs, religiöse Unterweisungsstätten. Laut einer amtlichen Statistik besuchen 219.000 Kinder, vorwiegend Knaben, solche Schulen. In einem Land, in dem die Hälfte der Bevölkerung unter achtzehn Jahre alt ist, herrscht kein Mangel an Jungen, die man zu selbstmörderischer religiöser Eiferei verführen kann.“ (Islamistisches Indoktrinations- und Rekrutierungssystem für militante und terroristische Abteilungen des Islamismus)

Die islamistischen Kräfte Pakistans zeigen in sehr eindrucksvoller Weise die funktionale Dialektik von Einheit (im Ziel) und Differenz (im Vorgehen) dieser religiös-totalitären Bewegung. Während der legale Flügel der Islamisten seit 2002 in Form eines Zusammenschlusses aus fünf Parteien[9], der Muttahida Majlis-e-Amal (Vereinigte Aktionsfront; MMA) im politischen Raum für die Errichtung einer theokratischen Diktatur mit der Scharia als alleingültigem Gesetz agiert, forcieren die militant-terroristischen Kräfte ihre Gewaltaktionen in mittlerweile zahlreichen Landesteilen. Als Ausgangsbasis dient ihnen die Nordwest-Provinz, wo die MMA seit 2002 die Regierung bildet und seither die entsprechenden kontrollpolitischen Vorrausetzungen dafür schuf, dass sich dort die militant-islamistischen Talibanverbände fest etablieren und eine komfortable Operations- und Herrschaftsbasis aufbauen konnten, die auch als sehr zweckmäßiger Rückzugs- und Reorganisationsraum für die auf afghanischem Gebiet operierenden Talibaneinheiten dient. In Anbetracht dieser machtstrukturellen Realität sah sich die schwache pakistanische Zentralregierung im Februar 2009 dazu gezwungen, den aufständischen Talibankämpfern im Gegenzug für ein Waffenstillstandsabkommen die Einführung und Anwendung des islamischen Rechts nach deren rigider Auslegung einzuräumen – was auf die Einführung einer totalitären Schreckensherrschaft nach talibanischen Regeln hinausläuft. Wohin nachgiebiges Zurückweichen und kompromissorientiertes Verhandeln mit radikalen Islamisten führt – sei es erzwungen oder subjektiv gewollt -, zeigte sich sehr rasch „In Swat kündigte Sufi Mohammed, der lokale Führer der islamistischen TNSM, offen an, die Bedingungen des Waffenstillstands mit der pakistanischen Regierung nicht akzeptieren zu wollen. Er kündigte an, keine Institutionen des pakistanischen Staates in Swat dulden zu wollen und den Kampf auf weitere Teile Pakistans auszudehnen.“[10] Das Entgegenkommen der Regierung hat folglich nur den „Hunger“ der Taliban nach totaler Machteroberung gesteigert, wie es auch in den Worten des Taliban-Führers klar zum Ausdruck kommt: „’The Koran says that supporting an infidel system is a great sin,’ Mohammed said, referring to Pakistan’s modern democratic institutions. He declared that in Swat, home to 1.5 million people, all ‘un-Islamic laws and customs will be abolished’, and he suggested that the official imprimatur on the agreement would pave the way for sharia to be installed in other areas.”[11] (Der Koran sagt, dass die Unterstützung eines ungläubigen Systems eine große Sünde ist“, sagte Mohammed und bezog sich dabei auf die modernen demokratischen Institutionen Pakistans. Er erklärte, dass in Swat, wo 1,5 Millionen Menschen leben, alle ‚unislamischen Gesetze und Bräuche abgeschafft werden‘, und er deutete an, dass die offizielle Bestätigung des Abkommens den Weg für die Einführung der Scharia in anderen Gebieten ebnen würde.“)

Das „schwächelnde” Zurückweichen der pakistanischen Regierung einerseits sowie das Erstarken der militanten Islamisten andererseits ist insbesondere auch auf die Unterstützung der Taliban durch den pakistanischen Geheimdienst (ISI) zurückzuführen. Wie die „New York Times“ unter Berufung auf ein halbes Dutzend amerikanischer, pakistanischer und anderer Geheimdienstmitarbeiter berichtete, bestünden die Hilfen aus Geld, Waffen und strategischer Beratung. Regelmäßig käme es zu Treffen zwischen Angehörigen des ISI mit Taliban-Kommandeuren, bei denen u. a. auch die Dosierung von Angriffen vor den afghanischen Präsidentschaftswahlen im August besprochen werden. Insgesamt habe die Unterstützung einen größeren Umfang als bisher vermutet[12]. Im Grunde hatte der pakistanische Präsident Asif Ali Zardari in einem Interview mit dem amerikanischen TV-Sender CBS bereits im Februar den Ernst der Lage beschworen: „Wir sind uns darüber im Klaren, dass die Taliban versuchen, in Pakistan die Macht zu übernehmen. Deshalb geht es um das Überleben Pakistans“. In Erwartung von dringend benötigter ausländischer Finanzhilfe wies er zu diesem Zeitpunkt noch alle Hinweise darauf, dass Militär und Geheimdienst nicht hinter seiner Regierung stünden, als „Spekulationen“ zurück. In der Zwischenzeit untersagte die pakistanische Regierung der Polizei in bestimmten Regionen sogar schon, gegen vorrückende Talibanmilizen vorzugehen und ließ  Maulana Abdul Aziz frei, „der 2007 einen Versuch angeführt hatte, von der „Roten Moschee” in Islamabad ausgehend die Hauptstadt zu übernehmen. Die mit der Freilassung verbundene implizite Botschaft dürfte die militanten Kräfte zusätzlich gestärkt haben. Die nichtmilitanten islamistischen Parteien des Landes sind durch die Erfolge der militanten Kräfte bereits ermutigt worden, die Einführung ihrer Form islamischen Rechts im gesamten Land voranzutreiben.“[13] Bis vor Kurzem kontrollierten die Taliban bereits mehr als die Hälfte des pakistanischen Staatsgebietes und einige Experten sagten bereits den Zusammenbruch des derzeitigen Regimes innerhalb der nächsten sechs bis zwölf Monate voraus. Das Zeitfenster zur Eindämmung der Taliban sei von der Regierung vor fünf Jahren verpasst worden, als man in Waziristan klein bei gab und die militanten Islamisten dazu ermunterte, Stück für Stück mehr Territorium zu erobern. Nun sei eine Abwendung der islamistischen Machtübernahme nur noch um den Preis eines großen Blutbades möglich[14].

Was die der Zentralregierung abgerungene Einführung des islamischen Rechts nach Art der Taliban in weiten Gebieten des ersten islamischen Atomstaates[15] konkret bedeutet, ist nichts Anderes als die Wiederherstellung von Zuständen, wie sie bereits zur Zeit der Talibandiktatur in Afghanistan herrschten. So wurden im Swat-Tal nach offiziellen Angaben 192 Schulen zerstört, 122 davon für Mädchen. Da jedes irdische Vergnügen und Unterhaltung wie Musik, Tanz, Kino etc., aber auch Kabelfernsehen gemäß dem rigiden Gotteswahnsinn der Taliban als „unislamisch“ verboten sind, steigt natürlich sofort auch die Zahl der Anlässe für drakonische Bestrafungen im Sinne der Scharia. Selbst im deutschen Fernsehen waren schon Bilder zusehen, wie die enthaupteten Leichen von Regierungsbeamten zwecks Abschreckung öffentlich ausgelegt werden oder zum Beispiel ein Metzger wegen „unislamischen“ Schlachtens öffentlich ausgepeitscht wird. Frauen werden wieder nach strengstem Gottesrecht wie Haustiere behandelt und dürfen ihr Heim inmitten dieser sittenterroristischen Schreckensherrschaft nicht ohne männliche Begleitung verlassen. „Eine 35-jährige Krankenschwester berichtet, Frauen dürften nur noch in Begleitung eines männlichen Verwandten ins Krankenhaus kommen – selbst, wenn sie schwer krank seien. Kämen sie allein, spielten sie mit ihrem Leben. Die junge Frau würde wie viele andere das Swat-Tal gern verlassen und nach Peshawar oder gar in die 160 Kilometer entfernte Hauptstadt Islamabad ziehen. Doch es fehlt ihnen das Geld dafür.“[16]

Erst als die USA den Druck in der Zwischenzeit massiv verstärkten und ankündigten, die zukünftige Militär- und Wirtschaftshilfe für Pakistan an das Erfüllen von Bedingungen zu knüpfen und die pakistanische Regierung unmissverständlich aufforderten, Entschlossenheit im Kampf gegen die Islamisten zu zeigen, leitete diese eine militärische Gegenoffensive ein. So wurden Luftangriffe auf Taliban-Stellungen im Swat-Tal geflogen, ein Hauptquartier der Taliban zerstört und angeblich 500 militante Islamisten getötet. Nach vorliegenden Berichten sollen infolge der Kampfhandlungen über eine halbe Millionen Menschen aus der Region auf der Flucht sein. Bezeichnenderweise kam diese erst kurz vor dem Dreiertreffen des pakistanischen Präsidenten Zardari mit US-Präsident Obama und Afghanistans Präsident Karzai Anfang Mai zu Stande. Bei dieser Gelegenheit zeigte Obama zur Abwechslung ein anderes rhetorisches Gesicht und bekräftigte den amerikanischen Willen, die Taliban samt al-Qaida zu vernichten und die Region zu befrieden. Dahinter steckt die neue Leiterkenntnis der US-Administration („Afpak“-Strategie), dass einerseits die Befriedung Afghanistans von antiislamistischen Eindämmungsfortschritten in Pakistan abhängt und andererseits die Nähe der pakistanischen Islamisten zu den dort stationierten Atomwaffen die vielleicht größte außenpolitische Bedrohung darstellt. Unter dem Eindruck des Dreiertreffens und der in Aussicht gestellten Finanzhilfen änderte sich plötzlich auch die offizielle Tonlage der pakistanischen Regierung. Man werde gegen die Islamisten kämpfen, bis die Normalität wieder hergestellt sei, so Präsident Zardari. Und Regierungschef Yousuf Raza Gilani erklärte in einer Fernsehansprache, die Sicherheitskräfte würden die Taliban „ausmerzen“. Vom kurz zuvor geschlossenen Friedensabkommen mit den Taliban will nun keiner mehr etwas wissen. Ob diese Haltung freilich Ausdruck einer nachhaltigen strategischen Einstellungsänderung ist oder einem situationsangepassten Opportunismus entspringt, wird sich bald zeigen. Auch in der US-Regierung soll die Sorge groß sein, dass Karzai und Zardari ihre guten Vorsätze schon bald nach ihrer Heimreise wieder vergessen könnten. Entsprechend zögerte eine Reihe von Kongressmitgliedern bereits, weitere Milliardensummen bereitzustellen. „’Präsident Obama hat ein Jahr, um Fortschritte zu machen’, droht David Obey, Vorsitzender des mächtigen Budgetkomitees im Repäsentantenhaus.“[17]

Der expansive Machtgewinn auf pakistanischem Gebiet liefert sowohl den Schlüssel für die Konsolidierung der logistischen Basen der djihadistischen Terroristen als auch für das offensive Erstarken der auf afghanischem Territorium operierenden Taliban. So haben diese es nach Angaben des South Asia Intelligence Review[18] im Verlauf des letzten Jahres geschafft, ihre permanente Präsenz innerhalb des afghanischen Staatsgebietes von 54 auf 72 Prozent zu steigern. Diese Positionsverbesserung erlaubt ihnen zum einen, ihre Angriffe und Anschläge auf die westlichen Militärverbände zu steigern und zum anderen, in immer mehr Regionen ihre repressiv-barbarische Kontrollherrschaft über deren Bewohner auszuüben. Ende April war es einer Gruppe von Talibankämpfern gelungen, das Verwaltungszentrum des Distrikts Borka im Nordwesten Afghanistans zu stürmen und damit erstmals vorübergehend einen ganzen Distrikt unter ihre Kontrolle zu bringen.

Die zentrale Ursache, die überhaupt erst den Aufstieg der Taliban zur Regierungsmacht ermöglicht hatte (bis zur Intervention der Amerikaner als Reaktion auf den 11. September), war deren Unterstützung durch die USA, Pakistan und Saudi-Arabien im Kampf gegen die damaligen Truppen der Sowjetunion und die prosowjetische Regierung. Letztere hatte immerhin eine Landreform in Angriff genommen, eine Alphabetisierungskampagne durchgeführt und die Frauen in den Großstädten entschleiert, also eine definitive Modernisierungspolitik eingeleitet, von der die Karsai-Regierung meilenweit entfernt ist. Mit der Vertreibung der Sowjets aus Afghanistan, was ohne die Lieferung von US-Stinger-Boden-Luft-Raketen wohl kaum möglich gewesen wäre, war dann der Boden für die ultra-regressive Talibanherrschaft bereitet worden[19]. Nach dem Sturz der Talibanherrschaft infolge der Militärschläge gegen die al-Qaida Stützpunkte und Ausbildungslager, lagen die grundlegenden Fehler der US-Strategie dann nach Ansicht des pakistanischen Journalisten und Experten für die Region, Ahmed Rashid, in Folgendem:

1) Da die US-Regierung schon 2001 während der Vertreibung der Taliban die Irak-Invasion geplant habe, sei der Einsatz in Afghanistan nur halbherzig mit unzureichendem finanziellen Aufwand sowie einer zu geringen Truppenstärke durchgeführt worden.

2) Zudem hätten die USA zunächst das Unterstützungsangebot der NATO abgewiesen, so dass diese sich erst 2005 beteiligte.

3) Darüber hinaus hätten die USA den Taliban erlaubt, sich auf pakistanisches Gebiet zurückzuziehen sowie den Pakistanern umgekehrt sogar gestattet, die Taliban verdeckt zu unterstützen. „Die US-Politik bestand darin, nur die ‚Araber’ und al-Qaida zu verfolgen. Das war eine sehr engstirnige Politik. Die Amerikaner waren nicht an den Taliban interessiert bis vor etwa 18 Monaten, als sie plötzlich merkten, dass die Taliban wirklich eine Bedrohung für die Karsai-Regierung sind.“[20]

Anstatt an die tragfähigen Aspekte der Modernisierungspolitik aus der Zeit der prosowjetischen Regierungen anzuknüpfen, folgte die christlich-rechte Bush-Administration einer verheerenden Logik, die darauf hinauslief, die radikalislamischen Taliban mit Hilfe der ultraorthodoxen Warlords und Stammesführer bekämpfen zu wollen. Gemäß der Strategie des ehemaligen stellvertretenden US-Verteidigungsminister Paul Wolfowitz, so Rashid, „ sollten die USA keine Bodentruppen in Afghanistan außerhalb der Städte einsetzen. Dort würden die Warlords für Sicherheit sorgen. Deshalb wurden sie von den USA bewaffnet und bezahlt. Dabei sind diese Warlords für das Drama in Afghanistan mitverantwortlich, sie sind in der Bevölkerung verhasst. Die Warlords haben das Geld der Amerikaner gern genommen, aber für Chaos gesorgt. Sie sind in das Drogengeschäft und Kriminalität verwickelt.“[21]. Hinzu kam und kommt die fatale Unterstützung der Taliban durch den pakistanischen Geheimdienst sowie das pakistanische Militär, das der Taliban nach Angaben von Rashid Unterschlupf gewährte und damit 2003 die Reorganisation der radikalislamischen Kampfgruppen ermöglichte. „Zugleich führte dies zur Entstehung der pakistanischen Taliban. Die Amerikaner haben Pakistan in den letzten sieben Jahren mit 11,8 Milliarden Dollar unterstützt. 80 Prozent davon ging an das Militär, doch das konnte das Militär nicht zu einer Änderung seiner Politik bewegen.“[22]

In Kombination mit dem Verzicht auf die Einleitung und angemessene Unterstützung einer infrastrukturellen Modernisierungspolitik hat die verfehlte Militärstrategie dazu geführt, die soziokulturelle Rückständigkeit Afghanistans nicht nur nicht aufzubrechen, sondern sogar zu restabilisieren und damit den Möglichkeitsraum für ein roll back der Taliban weit offen gehalten. So befindet sich das Schulsystem vielfach noch in jenem erbärmlichen Zustand, wie es die Taliban nach ihrer antimodernistischen Konterrevolution zurückgelassen hatten. Der Unterricht findet in der Hälfte der Fälle noch nicht einmal in festen Gebäuden, sondern in Zelten oder im Freien statt. Bei ihren Überfällen in den vergangenen vier Jahren haben die Radikalislamisten hunderte Schulen zerstört und zahlreiche Lehrer und Schüler getötet. 2008 wurden über 700 Schulen wegen der verschlechterten Sicherheitslage geschlossen. Unter diesen Umständen nehmen ein Drittel (fünf Millionen) der Heranwachsenden unter 18 Jahren gar nicht am Unterricht teil. Auch deshalb sind nur 18 Prozent der weiblichen und 50 Prozent der männlichen Bevölkerung Afghanistans nach UNESCO-Angaben schreib- und lesefähig[23]. Mit Unterstützung von westlichen Diplomaten wurde im posttalibanischen Afghanistan eine Verfassung ausgearbeitet, die unter der verhängnisvollen Prämisse steht, dass kein Gesetz im Widerspruch zum Islam stehen darf und von den islamistischen Kräften folgerichtig als direkte Einladung angesehen werden kann, auf die Praktizierung der Scharia zu pochen. „Der NATO-Bericht an den UN-Sicherheitsrat von 2008 schreibt, die ISAF schätze, dass 70 bis 90 Prozent der Afghanen wieder unter Stammesrecht und der Scharia lebten“ (Clasen 2008, S. 134). Unter diesen Umständen sieht dann der entsprechend normierte Alltag folgendermaßen aus: „Mädchen im Alter von zehn Jahren, elf Jahren werden mit 60-jährigen Männern zwangsverheiratet oder von ihren Vätern als ‚Ehefrau auf Zeit’ an deren Schuldner verkauft. Im ländlichen Bereich kommen Steinigungen von sogenannten Ehebrecherinnen weiterhin vor. Allein in Kabul gibt es pro Jahr Hundert Fälle von Selbstverstümmelungen: Oft sind es junge Frauen, die sich in ihrer Verzweiflung mit Benzin übergießen und anzünden, um so ihrem Dasein ein Ende zu bereiten, weil sie in der Zwangsehe brutal misshandelt werden oder andere Formen der Sklaverei nicht mehr ertragen können“ (ebenda, S. 135). In dieses Bild passt auch die Veröffentlichung eines Gesetzestextes der afghanischen Regierung Anfang April 2009, der den Zustand der islamischen Sozialmoral im heutigen Afghanistan prägnant widerspiegelt: Darin wird das Geschlechterverhältnis schiitischer Ehepaare dahingehend geregelt, dass Frauen alle vier Tage Sex mit ihren Ehemännern haben müssen und Letztere das Recht haben, ihren Frauen die Ausübung beruflicher Arbeitstätigkeiten sowie das Verlassen des Hauses zu untersagen. Auf internationalen Druck hin wurde das Inkrafttreten des Gesetzes vorerst auf Eis gelegt.[24] In Reaktion darauf wiederum verbat sich der führende schiitische Geistliche Afghanistans und Mitautor des Gesetzestextes, Mohammad Asif Mohseni, im Stile eines kulturrelativistischen Diplomaten des UN-Menschenrechtsrates die unzulässige Einmischung, die mangelnden Respekt für die afghanische Demokratie erkennen lasse. „Das Gesetz der Scharia besagt, dass eine Frau das Haus nicht ohne Erlaubnis ihres Mannes verlassen darf“, verteidigte Mohseni die Regelung kategorisch[25]. Wenn eine Frau nicht krank sei oder ein anderes Problem vorläge, dürfe sie sich nicht verweigern. Da der Mann für den Unterhalt der Familie aufkomme, habe er einen Anspruch auf regelmäßigen Geschlechtsverkehr, brachte er überdies den Kerninhalt der islamischen Tauschgeschäftsehe noch einmal in aller Deutlichkeit auf den Begriff[26].

In diesem Kontext kann dann selbst die feige Ermordung der Provinzrätin und Frauenrechtlerin Sitara Achikzai, die jahrelang im deutschen Exil lebte und am 12. April 2009 vor ihrem Haus in Kandahar von vier Männern erschossen wurde, kaum noch überraschen. Schon zuvor waren dort die Frauenbeauftragte der Provinz sowie eine der ranghöchsten Polizistinnen des Landes ermordet worden. In dieses Bild einer bereits restaurierten und parallel wirksamen religiösen Schreckensherrschaft passt auch die öffentliche Hinrichtung eines Liebespaares vor einer Moschee in der südwestlichen Provinz Nimros Mitte April 2009. Das Vergehen der Getöteten nach orthodox-islamischem Recht: Der 23-jährige Mann und die 19-jährige Frau seien verliebt gewesen und geflohen, weil ihre Familien nicht in eine Hochzeit einwilligen wollten. „Die Familie der Frau habe die beiden im Distrikt Khosh Rud aufgespürt und an die Taliban ausgeliefert, um über sie zu richten. Dort hätten drei Mullahs sie dann zur örtlichen Moschee gebracht und mit einer Fatwa … zum Tode verurteilt, sagte der Gouverneur.“[27] Das subjektive Geprägtsein durch dieses repressiv-archaische Herkunftsmilieu bildet letztlich auch die herrschaftskulturelle Wurzel für jene „Ehrenmorde“, wie sie Zuwanderer – in Ermangelung von Schariagerichten – auch in westlichen Aufnahmeländern begehen, wenn der vorgängig ausgeübte Unterwerfungsdruck einmal nicht ausreicht.[28].“

 

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